Der Wolkenpavillon
Chiyos Ehemann genau so abgrundtief, wie sie den oder die Vergewaltiger hasste. »Es tut mir leid, was dir passiert ist. Du kannst nichts dafür, egal, was die Leute sagen. Du bist ein tapferes und nettes Mädchen. Ich verspreche dir, dass mein Mann den Täter fassen wird.«
Aber noch während Reiko sprach, musste sie daran denken, dass Sano ja das Ziel verfolgte, den Vergewaltiger seiner Cousine zu fassen. Wenn Fumiko von einem anderen Verbrecher entführt und vergewaltigt worden war - würde Sano diesen Täter dann auch suchen? Schließlich hatte er als Kammerherr genug zu tun. Reiko schwor sich, den Vergewaltiger Fumikos notfalls auf eigene Faust zu jagen und ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Und bis dahin konnte sie dem Mädchen auf andere Weise helfen.
»Du kommst vorerst mit zu mir«, sagte Reiko. Dann rief sie den Sänftenträgern zu: »Los!«
Die Männer wuchteten sich die Tragestangen auf die Schultern. Als die Sänfte sich in Bewegung setzte, fragte Fumiko: »Wohin?«
»Zu meinem Haus«, antwortete Reiko, »auf dem Palastgelände.«
»Ich kann nicht mit!«, protestierte Fumiko.
Reiko vermutete, dass das Mädchen sich vor der fremden Umgebung fürchtete. »Keine Angst, du kannst«, sagte sie besänftigend. »Du bekommst so viel zu essen, wie du willst, und saubere Kleidung, und einen schönen Platz zum Schlafen. Es wird dir gut gehen.«
»Bitte, bleibt stehen«, flehte Fumiko, als die Sänfte an den Marktständen vorbeizog. »Ich kann nicht weg von hier!«
Verwirrt sagte Reiko: »Aber hier musst du im Freien schlafen und dich von Abfällen ernähren. Warum, bei allen Göttern, willst du hierbleiben?«
»Mein Vater weiß, dass ich hier bin«, stieß Fumiko verzweifelt hervor. »Seine Leute haben mich gesehen. Wenn ich woandershin gehe, dann findet mein Vater mich nicht mehr.«
»Warum sollte er das wollen? Er hat dich doch hinausgeworfen.«
»Aber ich darf zu ihm zurück, sobald er der Meinung ist, dass ich meine Strafe verbüßt habe!« Fumikos Stimme klang so, als wollte sie es verzweifelt glauben.
»Ich lasse deinem Vater eine Nachricht zukommen, dass du bei mir wohnst«, sagte Reiko. »Dann weiß er, wo er dich finden kann.«
»Aber es gefällt ihm vielleicht nicht, wenn ich bei Euch wohne. Vielleicht wird er dann noch wütender!«
»Du bist von streunenden Hunden angefallen worden«, sagte Reiko mit Nachdruck. »Und beim nächsten Mal kommst du vielleicht nicht so glimpflich davon. Bis dein Vater dir verziehen hat, bist du womöglich längst tot.«
Fumiko machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte sie Reikos Bemerkung als unsinnig abtun. »Ich komme nicht mit Euch mit! Ich gehöre hierher!«
Sie packte die leere Holzkiste und schleuderte sie auf Reiko. Als Reiko schützend die Arme hochriss, stieß Fumiko die Tür auf und sprang aus der Sänfte.
»Warte!«, rief Reiko. »Fumiko, bleib stehen!«
Das Mädchen stürmte zum Marktplatz, wo sie von der Menge verschluckt wurde.
»Soll ich ihr folgen, Herrin?«, rief Leutnant Tanuma.
»Nein.«
Seufzend schloss Reiko die Tür der Sänfte. Sie würde Fumiko nicht zwingen, bei ihr zu wohnen. Vielleicht hatte das Mädchen sogar recht, dass ihr Vater nicht damit einverstanden wäre. Und möglicherweise würde er ihr nie mehr verzeihen, wenn er davon erfuhr. Reiko wusste nicht genug über Verbrecher wie Jirocho, um sich in deren Gedankenwelt hineinversetzen zu können.
Außerdem musste sie für Sano noch eine weitere Aufgabe erledigen. »Bringt mich zum Keiaiji-Kloster«, rief sie Tanuma und den Wachsoldaten zu. »Vielleicht habe ich bei der Nonne mehr Glück.«
*
Das Anwesen von Kammerherr Yanagisawa war eines von vielen auf dem Gelände des Palasts zu Edo. Es befand sich in einem Wohnviertel, in dem die hochrangigsten Beamten des Shōgun lebten. Wachen öffneten die Tore. Yanagisawa und sein Sohn Yoritomo, bekleidet mit Regenumhang und Regenhut, ritten mit einem Trupp Begleitsoldaten ins Freie und trabten die belebte Straße entlang, inmitten berittener Soldaten und Samurai.
Nur dass einer der Soldaten eigentlich kein Soldat war. Das Gesicht unter dem Helm gehörte Toda Ikkyu, dem metsuke-Spion. Yanagisawa und Yoritomo bemerkten nicht, dass Toda ihnen folgte.
Und weder diese beiden noch Toda bemerkten den Jungen, der ihnen auf einem Pony hinterherritt.
Auch Masahiro trug einen Regenumhang und einen Hut, der sein Gesicht verbarg, und er hatte sich eine Holzstange auf dem Rücken festgebunden, an der die Botenflagge mit dem
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