Der Wolkenpavillon
Tageslicht, das durch die Papierbespannung in den Fenstern fiel, sah sie aus wie eine Leiche. Ihr Gesicht war ausgezehrt und die Haut auf dem haarlosen Schädel so dünn, dass das Geflecht der blauen Venen hindurchschimmerte. Ihre skelettartigen Hände hielten einen Rosenkranz aus runden braunen Jadeperlen, die auf eine dicke Lederschnur aufgezogen waren.
»Tengu-in?«, sagte Reiko und kniete sich neben die Pritsche. »Könnt Ihr mich hören?«
Die Lippen der Nonne bewegten sich, während sie stumme Gebete sprach und den Rosenkranz durch ihre knochigen Finger gleiten ließ. Im Vergleich zu Tengu-in schienen Fumiko und Chiyo noch glimpflich davongekommen zu sein, was immer sie durchlitten haben mochten. Zumindest schien es ihnen körperlich und seelisch besser zu gehen als dieser alten Frau.
»Es tut mir leid, dass ich Euch belästigen muss«, fuhr Reiko fort, »aber mein Gemahl, Kammerherr Sano, schickt mich. Er ist gestern bei Euch gewesen. Erinnert Ihr Euch?«
Tengu-in antwortete nicht, sprach weiterhin ihre stummen Gebete und ließ die Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger gleiten.
»Ich muss wissen, was Euch während der Entführung passiert ist«, beharrte Reiko. »Vielleicht fühlt Ihr Euch besser, wenn Ihr es mir erzählt.«
Keine Antwort. Reiko versuchte es auf andere Weise. »Es wurden noch zwei weitere Frauen entführt und vergewaltigt. Mein Gemahl und ich vermuten, dass es derselbe Täter war, der auch Euch entführt hat«, erklärte Reiko, obwohl sie nach den Aussagen Fumikos und Chiyos ihre Zweifel hatte. »Wir wollen diesen Mann fassen. Wahrscheinlich seid Ihr die Einzige, die uns dabei helfen kann. Wollt Ihr es versuchen? Für Euch selbst und für die anderen Opfer?«
Die Zeit verrann, ohne dass der alten Nonne Reikos Anwesenheit bewusst zu sein schien, und Reiko hatte das unheimliche Gefühl, als wäre sie ganz allein in dem düsteren Schlafsaal, denn Tengu-ins Geist hatte sich in eine fremde, ferne Welt zurückgezogen. Wie konnte Reiko zu ihr vordringen?
»Ich glaube, ich weiß, was geschehen ist«, fuhr sie schließlich fort. »Ich erzähle es Euch, und Ihr gebt mir ein Zeichen, ob ich recht habe, ja?« Reiko hatte das Gefühl, Selbstgespräche zu führen, als sie nun die Geschichte wiedergab, die sie von Sano erfahren hatte. »An jenem Tag seid Ihr zum Haupttempel gegangen, begleitet von den Novizinnen. Irgendwann konntet Ihr nicht mehr mithalten mit den Mädchen, und sie haben Euch zurückgelassen. Und dann ist Euer Entführer erschienen, nicht wahr? Wo und wie?«
Hatte Reiko es sich nur eingebildet, oder hatte der Körper der alten Frau sich für einen Augenblick angstvoll verkrampft?
»Hat der Mann so getan, als wäre er verletzt, und hat Euch um Hilfe gebeten?«, fragte Reiko, wobei sie sich die Geschichte in Erinnerung rief, die Chiyo ihr erzählt hatte.
Tengu-ins Totenkopfgesicht blieb unbewegt.
»Hatte der Mann einen abgerichteten Affen dabei? Hat er Euch gesagt, er würde Euch mit dem Tier spielen lassen, wenn Ihr ihn begleitet?« Schon während sie fragte, wusste sie eigentlich, dass der Vergewaltiger bei Tengu-in wohl kaum den Trick mit dem Affen angewandt hatte wie bei Fumiko. Dazu war er zu schlau.
Unvermittelt kam ein heiseres Flüstern über Tengu-ins welke Lippen. Sie schlug die Augen auf, die trüb und ausdruckslos ins Leere starrten.
»Was habt Ihr gesagt?«, fragte Reiko. Sie hatte Mühe, ihre Erregung zu verbergen.
»Ort der Erleichterung«, flüsterte Tengu-in.
Dieser Ausdruck war eine vornehme Umschreibung für »Abort«. Zuerst glaubte Reiko, die alte Frau wollte ihr zu verstehen geben, dass sie sich erleichtern müsse, dann aber bewegten Tengu-ins Lippen sich wieder. Sie schien Reiko irgendetwas sagen zu wollen, doch es war kaum zu verstehen. Reiko beugte sich ganz nah an die alte Frau heran, um besser hören zu können.
»Ich musste zum Ort der Erleichterung«, flüsterte Tengu-in. »Ich war drinnen, und da hat er auf einmal die Tür geöffnet.«
Reiko erkannte, dass Tengu-in von dem Tag erzählte, als sie entführt worden war. Endlich hatte die alte Frau ihr Schweigen gebrochen, auch wenn Reiko keine Erklärung dafür hatte. Sie stellte sich Tengu-in auf dem öffentlichen Abort auf dem Tempelgelände vor, verschämt und hilflos, als sich plötzlich die Tür geöffnet hatte. Wie es schien, hatte der Entführer die hilflose Frau dort bedrängt.
»Wer war der Mann?«, fragte Reiko drängend.
Tengu-in schwieg, warf den Kopf auf dem Kissen hin und
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