Der Wolkenpavillon
her.
»War es ein großer Mann mit rasiertem Schädel und einer verschorften Wunde auf der Wange?«, hakte Reiko nach.
»Ich ... ich weiß es nicht.«
Wenn es nicht der Verdächtige war, den Hirata draußen vor dem Kloster gesehen hatte, war es vielleicht der Unbekannte, den Hiratas Zeugen am Shinobazu-See beobachtet hatten.
»Fehlten dem Mann zwei Vorderzähne?«, fragte Reiko.
»Das konnte ich nicht sehen«, wisperte Tengu-in. »Das Licht ...«
Reiko verstand: Im Gegenlicht war der Mann nur ein gesichtsloser schwarzer Schemen gewesen. »Was ist dann geschehen?«
Die Blicke der Nonne huschten unter ihren halb gesenkten Lidern furchtsam umher.
»Dann wisst Ihr nur noch, dass Ihr irgendwann wieder aufgewacht seid, nicht wahr?«, fragte Reiko mit drängendem Unterton. Sie musste verhindern, dass Tengu-in ihr entglitt und sich wieder in ihre eigene Welt zurückzog. »Ihr wart an einem Ort voller Wolken.«
»Wolken.« Tengu-ins Stimme klang wie das Seufzen des Windes.
»Der Mann war bei Euch, und Ihr konntet Euch nicht bewegen.«
Tengu-in ließ ein angsterfülltes Wimmern hören. Ein Zittern lief durch ihren Körper.
»Er hat an Euren Brüsten gesaugt«, fuhr Reiko fort. »Und er hat Euch ›liebste Mutter‹ genannt.«
Tengu-in warf den Kopf hin und her.
»Er hat Euch gezwungen, an seinem Glied zu saugen, nicht wahr?«, sagte Reiko. »Und er hat Euch beschimpft und gesagt, Ihr wärt unartig und hättet Schläge verdient. Ist es nicht so?«
Tengu-in murmelte irgendetwas Unverständliches.
»Was habt Ihr gesagt?«, fragte Reiko.
»Beten«, flüsterte Tengu-in. »Ich musste eine Gebetszeile sprechen, als er mich geschändet hat.« Plötzlich wurde ihre Stimme laut und schrill. »Namu Amida Butsu! Namu Amida Butsu!« Reiko kannte die Bedeutung dieser Worte: »Ich nehme Zuflucht beim Buddha des unbegrenzten Lichts.«
Tengu-in betete, von den Beschwernissen des irdischen Daseins erlöst und im Reinen Land wiedergeboren zu werden, einem Himmel aus Schönheit und Erleuchtung. Die Stimme der alten Frau wurde leiser und verstummte bald ganz, während ihre Lippen sich weiterbewegten. Schließlich schloss sie die Augen und zog sich zurück hinter die undurchdringliche Mauer ihrer eigenen Hölle.
19.
»Ich bringe diese beiden Gefangenen zur Vernehmung«, sagte Sano zu den Wachen am Eingang des Gefängnisses von Edo. Hinter Sano stand der Ochsenkarren, auf dem die zwei Fahrer knieten, an Händen und Füßen gefesselt und bewacht von den Ermittlern Marume und Fukida sowie von Sanos anderen Männern. Vor Sano ragten die düsteren, moosbewachsenen Mauern und die hohen Wachtürme des gefürchteten Gefängnisses auf. »Lasst uns hinein!«
Die Wachen gehorchten. Kurz darauf versammelten Sano und seine Leute sich in einem Innenhof, der von den Unterkünften der Gefängniswärter umschlossen wurde. Sanos Soldaten fuhren den Ochsenkarren in den Hof und hoben die beiden Gefangenen herunter. Dann marschierte die ganze Gruppe zum Kerker, einem furchteinflößenden Bauwerk, von dessen schmutzigen Wänden der Putz bröckelte und das auf einem hohen Steinfundament erbaut worden war. Der Kerker war gleichsam der düstere Bruder des Palasts zu Edo und die Verkehrung all dessen, was er verkörperte: Das eine Bauwerk gab den Reichen und Mächtigen des Landes eine sichere und prunkvolle Heimstatt, während in dem anderen der Bodensatz der Gesellschaft dahinvegetierte.
Die Verhörräume lagen auf einem langen Gang, in dem es nach Abwasser stank. Jeder Raum hatte eine eisenverstärkte Tür und ein kleines Gitterfenster auf Augenhöhe. Hirata führte den jüngeren der beiden Gefangenen, den Mann mit den zwei fehlenden Vorderzähnen, in einen der Räume, während Sano, Marume und Fukida den zweiten Gefangenen in einen anderen Verhörraum am anderen Ende des Ganges brachten, der von Geschrei, Stöhnen und Schluchzen erfüllt war. Sanos Verhörraum war gerade groß genug, dass vier Leute Platz hatten und dass man ein Schwert schwingen konnte. Trübes Licht fiel durch das Gitterfenster. Die feuchten Wände waren rissig und übersät mit alten Blutflecken. Marume und Fukida stießen den Gefangenen auf das faulige, zertrampelte Stroh, das den Boden bedeckte und aus dem der Gestank von Urin aufstieg; offenbar war es nach dem letzten Verhör nicht ausgetauscht worden.
Der massige Gefangene starrte mit düsterem Blick unter den wulstigen Brauen an Sano vorbei an die Wand. Sein unrasiertes Gesicht war schlammverspritzt und zerkratzt vom
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