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Der Wolkenpavillon

Der Wolkenpavillon

Titel: Der Wolkenpavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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Wappen der Tokugawa flatterte. Dazu trug er einen Sack aus Leder, in dem sich Bambushüllen befanden, wie sie zur Aufbewahrung zusammengerollter Papiere benutzt wurden. Die Flagge, der Ledersack und die Bambushüllen waren die übliche Ausrüstung eines Botenjungen; Masahiro hatte sich die Gegenstände aus der Schreibstube von Sano besorgt. Er hoffte, dass sein Vater nichts dagegen hatte. Die Bambushüllen waren leer; sie gehörten zu Masahiros Tarnung.
    Die Idee zu der Verkleidung hatte er von seiner Mutter, die sich manchmal als Dienerin tarnte, um nicht aufzufallen, wenn sie das Haus verließ und auf eigene Faust irgendwelche Nachforschungen anstellte. Außerdem hatte Masahiro sich an dem Spion ein Beispiel genommen, der gestern Abend bei seinem Vater gewesen war. Unter den Bambushüllen in seinem Ledersack hatte Masahiro noch einen Hut und eine Jacke zusätzlich versteckt.
    Als Masahiro dem Kammerherrn, dessen Sohn und deren Begleitsoldaten durch die schmalen Gassen und Mauergänge folgte, die das Palastgelände durchzogen und die vom Hügel hinunter in die Stadt führten, klopfte ihm das Herz bis zum Hals vor Aufregung. Heute war sein erster Tag als richtiger Ermittler. Er wollte herausfinden, was Yanagisawa vorhatte.
    Der Reitertrupp hielt an einer der Kontrollstellen. Hier ragten zwei gewaltige Tore auf, zwischen denen sich ein rechteckiger Hof befand. Die Tore sollten im Kriegsfall die Feinde in eine Falle locken. Bei einem Angriff wurden sie von den Verteidigern zwischen den beiden Toren eingeschlossen und konnten von den Wehrgängen aus niedergemacht werden. In Friedenszeiten beschränkten sich die Wachsoldaten darauf, die Ein- und Ausreitenden zu überprüfen. Yanagisawa und sein Tross wurden durchgelassen. Masahiro wartete ungeduldig, versteckt hinter einer Gruppe von Höflingen, die den Blick auf ihn verwehrten. Er durfte Yanagisawas Fährte nicht verlieren! Zugleich machte er sich Sorgen, ob seine Verkleidung gut genug war, dass er an der Kontrollstelle durchgelassen wurde. Würden die Posten bemerken, dass er für einen Botenjungen noch zu klein war? Masahiro richtete sich zu seiner vollen Größe auf, hielt den Atem an und betete stumm, als er sich den Posten näherte.
    Die Wachsoldaten ließen ihn unbehelligt durch.
    Erleichtert trieb Masahiro das Pony an, um zu Yanagisawa und dessen Leuten aufzuschließen. Doch als er sich dem Haupttor des Palasts näherte, befielen ihn Zweifel.
    Noch nie hatte Masahiro das Palastgelände alleine verlassen. Seine Eltern hatten ihm stets gesagt, das sei zu gefährlich. Masahiro hätte sich niemals eingestanden, dass er sich fürchtete, den Palast zu verlassen, aber es war so. Die Stadt war riesig, und es wimmelte dort von gefährlichen Leuten. Masahiro trug einen Dolch unter dem Regenumhang, aber was wäre, wenn er von jemandem angegriffen wurde, der zu groß und zu stark war, als dass er es mit ihm aufnehmen könnte? Außerdem machte er sich Gedanken, was geschehen würde, wenn sein Vater und seine Mutter herausfanden, dass er gegen ihr Verbot verstoßen hatte.
    Vor Masahiro ragte nun das Haupttor auf. Er beobachtete, wie Yanagisawa und seine Leute hindurchritten.
    Was sollte er tun?
    Masahiro holte tief Luft, nahm seinen ganzen Mut zusammen und folgte Yanagisawa.
    Wenn seine Eltern heute Abend erfuhren, was er über Yanagisawa herausgefunden
    hatte, würden sie so stolz auf ihn sein, dass sie ihren Zorn vergaßen.
    *

    Im Schlafsaal des Klosters hielten zwei Novizinnen die Nonne Tengu-in an den Schultern aufrecht. Die alte Frau saß auf einer Holzpritsche, über die eine Decke gebreitet war. Eine dritte Novizin fütterte Tengu-in mit Misosuppe. Die alte Nonne wehrte sich schwach, spie die Suppe aus und betete flüsternd.
    »Es wird Euch nichts bringen, wenn Ihr mit ihr zu reden versucht«, sagte die Äbtissin, die mit Reiko in der Tür stand. »Aber überzeugt Euch selbst.«
    Reiko beobachtete bestürzt, wie Tengu-in sich hustend und würgend krümmte, als die Novizinnen ihr gewaltsam etwas Wasser einflößten. Diese zwangsweise Ernährung war qualvoll für die alte Frau, hatte ihr bislang aber vermutlich das Leben gerettet. »Ich muss es versuchen«, sagte Reiko.
    Sie ging durch den Schlafsaal, vorbei an einer langen Reihe schmuckloser Holzpritschen, auf denen die Nonnen schliefen, und näherte sich Tengu-in. Die Äbtissin und die Novizinnen verbeugten sich und verließen den Saal. Tengu-in lag erschöpft auf der Pritsche, die Augen geschlossen. Im trüben

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