Der Wolkenpavillon
zwischen dem Verlangen, sich in hysterischen Anfällen und Selbstmitleid zu ergehen oder seinem Hang zu Ruhe, zu Untätigkeit und Trägheit nachzugeben. »Also gut. Aber wenn ich zu dem Schluss komme, dass einer von Euch mir schlechte Dienste erwiesen hat ...«
Er brauchte den Satz nicht zu Ende zu führen. Es war allgemein bekannt, dass jeder, der bei Tokugawa Tsunayoshi in Ungnade fiel, dazu verurteilt wurde, rituellen Selbstmord zu begehen.
»Genug jetzt«, verkündete der Shōgun. »Ich bin müde. Das Treffen ist vertagt.«
*
Als Reiko im Zōjō-Tempelbezirk aus der Sänfte stieg, hielt Leutnant Tanuma einen Schirm über sie, um sie vor dem Regen zu schützen. Dann öffnete er ihr das Tor des Keiaiji-Nonnenklosters. Reiko hob den Saum ihres Kimonos hoch, als sie in ihren Sandalen, die hohe Absätze hatten, durch den nassen Garten schritt. Die Pinien erfüllten die Luft mit ihrem frischen, würzigen Duft, während von ihren üppigen grünen Ästen das Wasser tropfte. Die Äbtissin kam auf die Veranda, um Reiko zu begrüßen.
»Darf ich noch einmal mit Tengu-in sprechen?«, fragte Reiko. »Vielleicht kann sie mir jetzt mehr erzählen als gestern.«
Da es Chiyo und Fumiko nicht gelungen war, einen der beiden Ochsenkarrenfahrer als Täter zu identifizieren, war Sano kaum noch eine Fährte geblieben, der nachzugehen sich gelohnt hätte. Umso mehr erhoffte Reiko sich von einem weiteren Gespräch mit der alten Nonne.
Die freundliche Miene der Äbtissin wich einem besorgten Ausdruck. »Tengu-in ist noch schwächer geworden, seit Ihr sie das letzte Mal gesehen habt. Heute ist sie gar nicht erst aufgestanden. Ich glaube nicht, dass sie mit Euch reden wird.«
Reiko befürchtete, ihre Besuche könnten dafür verantwortlich sein, dass Tengu-ins Zustand sich verschlechtert hatte; trotzdem sagte sie: »Bitte, ich muss es versuchen.«
»Also gut.« Die Äbtissin klang ergeben. Sie wusste, dass sie eine Anfrage, hinter der Sanos Macht und Einfluss standen, nicht zurückweisen konnte.
Im Innern des Klosters war es still. Die Nonnen und Novizinnen hatten das Gebäude verlassen, um in den Tempeln zu beten oder mildtätige Werke bei den Armen zu tun. Der Flur, durch den Reiko ging, war wie ein düsterer Tunnel, und ihre Schritte und das Plätschern des Regens auf dem Dach hallten wider. Von irgendwoher drang das Summen von Fliegen. Unvermittelt wurde Reiko von einer schrecklichen Vorahnung erfasst.
Sie eilte zum Schlafsaal der Nonnen, stürmte durch die Tür, atemlos vor plötzlicher Angst, und blieb wie angewurzelt stehen.
Das Bett, in dem Tengu-in gelegen hatte, war leer. Jemand hatte die Decke achtlos von der Strohmatratze geschleudert. Das Summen der Fliegen war nun deutlicher zu hören. Reiko blickte sich in dem Raum um. Sie sah einen niedrigen Holztisch in der Mitte des Saales. Neben dem Tisch lag ein kniehoher, umgekippter Weidenkorb. Zögernd hob Reiko den Blick und zuckte zusammen, als sie zwei nackte weiße Füße sah, die über der Tischplatte hin und her pendelten.
Ihr Herz verkrampfte sich, und ihr stockte der Atem, als sie zur Decke schaute und entdeckte, was aus Tengu-in geworden war.
Der ausgemergelte Körper der Nonne, in ein Gewand aus grobem Leinen gehüllt, hing von der Decke. Die Lederschnur ihres Rosenkranzes lag um ihren Hals; ein Ende der Schnur war an einem Deckenbalken festgebunden. Vom Zug des Gewichts hatte das Leder sich tief in das Fleisch am Hals der Toten gegraben, das blau und rot verfärbt war. Der Kopf war in einem seltsamen Winkel zur Seite geneigt, das Gesicht purpurn und gedunsen. Zwischen den weißen Lippen hing die geschwollene Zunge hervor. Das Blut, das aus dem Mund der Toten tropfte, hatte Fliegenschwärme angelockt.
Ein schriller Schrei zerriss die Stille. Zuerst glaubte Reiko, sie selbst hätte diesen Schrei ausgestoßen, als unwillkürliche Reaktion auf das grässliche Bild des Todes. Doch als sie sich umdrehte, sah sie eine Novizin in der Tür stehen, von Grauen gepackt. Das Mädchen schwankte und wurde kreidebleich, dann sank es bewusstlos zu Boden.
24.
Nach dem Treffen mit dem Shōgun verließen Sano und Yanagisawa gemeinsam den Empfangssaal, gefolgt von Marume und Fukida, und gingen einen überdachten Gang entlang, der zwei Flügel des Inneren Palasts miteinander verband. Draußen ging der Regen in silbern schimmernden Vorhängen auf das Palastgelände und die Gärten nieder, eine Welt aus verschwommenen Grau- und Grüntönen, in der Vogelgezwitscher ertönte und in
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