Der Wunschtraummann
Tag danach um die Mittagszeit, und ich sitze auf einer Bank vor der St. Mary’s Church. Es ist erstaunlich mild, als habe sich der Frühling über Nacht in den Winter gemischt, und einige verwirrte Krokusse stecken die Köpfe aus dem Boden, eingelullt von einem trügerischen Gefühl der Sicherheit, der letzte Frost sei schon vorüber. Ich lasse meine Puderdose zuschnappen, stecke sie wieder in den Rucksack und ziehe eine Tragetasche heraus. Darin ist ein Paar schwarzer Highheels, die ich in einem Secondhandladen entdeckt habe. Sie waren neu und noch in der Originalschachtel, hatten aber vorne drauf eine hässliche riesengroße Schnalle, die ich abgemacht und durch zwei entzückende Art-déco-Schmetterlingsbroschen ersetzt habe. Ich ziehe mir die Stiefel, die ich im Büro anhatte, von den Füßen und schlüpfe hinein. Sie passen perfekt zu meinem Kleid.
Ich bin fertig und werfe einen Blick auf die Uhr. Ausnahmsweise bin ich überpünktlich. Aber ich habe mir auch besondere Mühe gegeben.
Dann höre ich Kies knirschen, und als ich mich umdrehe, sehe ich ein Auto die Einfahrt heraufkommen. Ein silberner Mini, altes Modell, rattert klappernd auf mich zu, und die Passagiere in dem hart gefederten Gefährt hopsen auf und ab wie auf einem Trampolin. Mit einem ziemlich beunruhigenden Bremsenquietschen kommt das Auto zum Stehen, und die Tür fliegt auf.
»Da wären wir«, ruft eine fröhliche Stimme, und ein Kopf mit knallpinken Dreadlocks kommt zum Vorschein. »Doch noch geschafft!«
Es ist Mel vom Hemmingway House, strahlend und mit langen, klimpernden Ohrringen.
»Entschuldige, wir sind ein bisschen zu spät, das ist meine Schuld.«
»Nicht schlimm«, entgegne ich lächelnd, springe von der Bank und umarme sie zur Begrüßung.
»Oooh, tolle Schuhe«, schwärmt sie mit einem Blick auf meine Füße. »Sehr schick.«
»Hättest du genauso gut auf meine Wegbeschreibung geachtet, hätten wir uns nie verfahren«, brummt eine Stimme aus dem Auto.
»Hallo, Opa«, sage ich, stecke lächelnd den Kopf hinein und beuge mich zu ihm hinüber, um ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. »Warte, ich komme rum und helf dir raus.«
»Humbug, ich komme auch alleine raus«, widerspricht er und öffnet schwungvoll die Tür. Dann sehe ich, wie er über dem Dach des Minis mit seinem Gehstock herumfuchtelt. »Wofür hältst du mich, für einen alten Mann?«
Mel und ich schauen uns an und grinsen, dann eilen wir ihm rasch zu Hilfe. Er wirft einen Blick auf sein Spiegelbild im Autofenster und rückt seinen Trilby zurecht.
»Dann lasse ich euch beide mal allein«, sagt Mel, senkt die Stimme und wendet sich an mich. »Ich warte im Auto.«
»Und das macht dir ganz bestimmt nichts aus?«
»Für Sidney? Natürlich nicht«, meint sie grinsend. »Lasst euch ruhig Zeit.«
Dankbar umarme ich sie und drehe mich dann wieder zu meinem Opa um. »Bist du so weit?«
»Ja, ich glaube, ich habe alles.« Zufrieden mit dem Sitz seines Huts lächelt er mich an, aber dann wird sein Gesicht ganz lang. »Ich habe die Blumen vergessen.«
»Nein, haben Sie nicht«, entgegnet Mel und holt einen großen Strauß knallgelber Chrysanthemen aus dem Auto. »Die haben wir auf dem Weg hierher gekauft, schon vergessen?«
»Tatsächlich?«, fragt er zweifelnd und runzelt angestrengt die Stirn. »Das weiß ich gar nicht mehr.«
»Die sind wunderschön«, sage ich schnell, damit er sich nicht über sein nachlassendes Gedächtnis ärgert. Dann hake ich mich bei ihm unter und lächele ihm aufmunternd zu. »Komm, gehen wir.« Ich winke Mel. »Bis gleich.«
Sie winkt zurück und steigt wieder ins Auto, und ich höre das Radio leise dudeln, als wir Arm in Arm losgehen – Opa mit seinem Gehstock, ich auf meinen Hochhackigen. Wir steuern auf den kleinen Pfad zu, der hinter der Kirche zum Friedhof hinaufführt.
»Du siehst ganz wunderbar aus, Liebes«, sagt er, als wir dann allein sind.
»Du aber auch«, gebe ich das Kompliment lächelnd zurück.
Tatsächlich sieht mein Opa wirklich sehr adrett und gediegen aus. Unter dem einreihig geknöpften Mantel trägt er seinen besten anthrazitgrauen Nadelstreifenanzug »aus feinstem italienischem Kaschmir, musst du wissen«, mit lila Einstecktuch und passender Krawatte, die perfekt gebunden über einem frisch gestärkten weißen Hemd sitzt.
»Wer hat dir denn das Hemd gestärkt?«, frage ich, gleichermaßen beeindruckt und besorgt. Als Opa das letzte Mal einen Hemdkragen gebügelt hat, hat er vergessen, das Bügeleisen
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