Der Wunschtraummann
stocke, krampfhaft bemüht, meine widerstrebenden Gefühle zu verstehen, als ein aufflackernder Zweifel Licht auf etwas wirft, das ich ganz tief vergraben hatte und von dem ich bis eben nicht einmal wusste, dass es da ist; von dem ich mir nicht eingestehen wollte , dass es da ist. Ein Gefühl, dass womöglich nicht er sich irrt, sondern ich.
»So, da wären wir.«
Aus meinen Gedanken gerissen merke ich jetzt erst, dass wir stehen geblieben sind und vor einem kleinen, einfachen Grabstein stehen:
ENID CONNELLY
1930–2007
GELIEBTE EHEFRAU , MUTTER UND GROSSMUTTER
WIR SIND STERBLICH , ABER UNSERE LIEBE NICHT .
Ich habe diese Worte schon so oft gelesen, und trotzdem habe ich jedes Mal einen Kloß im Hals.
»Sie fehlt mir«, sagt er leise.
»Mir auch«, sage ich, nehme seine Hand und drücke sie fest.
Ich helfe ihm, den Blumenstrauß in einer Vase auf dem Grab zu arrangieren, und die leuchtend gelben Blumen, die Nan so gern mochte, ragen stolz daraus empor, und dann stehen wir eine Weile einfach nur da, Arm in Arm, und hängen unseren eigenen Gedanken und Erinnerungen nach. So oft im Leben muss man die richtigen Worte finden, das Richtige sagen, aber manchmal sind keine Worte nötig. Man braucht nichts zu sagen. Man braucht es nur zu fühlen.
Irgendwann zieht er dann ein Taschentuch heraus und tupft sich damit die Augen. »Also gut, genug Trübsal geblasen«, sagt er und setzt ein Lächeln auf, »schließlich sind wir zum Feiern hier.«
»Recht hast du«, sage ich und nicke entschieden, wobei ich den Kloß im Hals runterschlucken muss. »Was glaubst du, warum ich hochhackige Schuhe anhabe? Damit wir feiern können, bis der Absatz kracht.«
Dankbar lacht er über diesen schlechten Kalauer, und ich lächele ihm aufmunternd zu.
»Und das ist noch nicht alles …« Ich nehme den Rucksack von der Schulter, krame darin herum und zaubere dann eine kleine Flasche und zwei Plastikbecher hervor.
»Was ist das denn?«, fragt er.
»Champagner natürlich! Was sollte man bitte sonst am Hochzeitstag trinken?«
Erstaunt und entzückt strahlt er über das ganze Gesicht. »Was würde ich bloß ohne dich machen, hm?«, kichert er.
»Tja, das ist so eine Sache«, entgegne ich, reiße den Folienverschluss ab und nehme den Korken in Angriff, »denn das wirst du wohl nie erfahren, weil du mich nicht so einfach loswirst.«
Mit einem lauten Knall löst sich der Korken aus der Flasche und schießt quer über den Friedhof.
»Heiliges Kanonenrohr, gleich holt uns die Polizei«, ruft er, nachdem er erschreckt zusammengefahren ist.
Ich lache und nehme schnell einen Becher, weil die schäumende Flüssigkeit schon aus der Flasche sprudelt.
»Deine Nan liebte dieses Kribbelwasser.«
»Nun, dann auf Nan. Auf euch beide«, sage ich, schenke großzügig ein und reiche ihm einen Becher. »Alles Liebe zum Hochzeitstag.«
Wir stoßen mit den Plastikbechern an, und dann sind wir kurz ganz still, trinken den Champagner und genießen die eiskalten Bläschen, die so herrlich auf der Zunge kribbeln.
»Siebenundfünfzig Jahre wären wir heute verheiratet«, sagt er dann. »Ich weiß, mein Gedächtnis ist nicht mehr das beste, aber diesen Tag werde ich nie vergessen.«
»Wow, siebenundfünfzig Jahre, unglaublich.«
»Eigentlich nicht«, meint er mit einem Lächeln. »Mit deiner Nan verheiratet zu sein war leicht … auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren.« Er lacht und schüttelt den Kopf. »Sie konnte so stur sein wie ein Esel, keine Frage, aber so war sie, meine Enid, und ich habe sie geliebt mit Haut und Haaren und allem Drum und Dran. Ich hätte nicht das kleinste bisschen an ihr ändern wollen.
Wenn ich es noch mal machen könnte, ich würde rein gar nichts an unseren siebenundfünfzig gemeinsamen Jahren ändern. Gar nichts. Nicht mal unsere Streitereien, und manchmal haben wir uns wirklich heftig in die Haare bekommen, das kannst du mir glauben.« Bei der Erinnerung daran muss er lachen. »Sogar als wir uns das erste Mal gesehen haben, sind wir aneinandergeraten.«
Mit einem erstaunten Lächeln sehe ich ihn an. »Das hast du mir noch nie erzählt.«
»Es war im Kino. Ich war mit zwei Freunden da, Bobby Wincup und Fred Lester. Ich weiß nicht mehr so genau, was wir gesehen haben, was aber sicher daran lag, dass ich für nichts anderes mehr Augen hatte als für deine Nan. Ich habe sie gleich beim Reinkommen gesehen. Und hinterher habe ich all meinen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob ich sie nach Hause bringen darf, und
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