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Der Wunschtraummann

Der Wunschtraummann

Titel: Der Wunschtraummann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Potter
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da habe ich dann versucht, sie zu küssen …«
    »Opa!«, rufe ich und tue entrüstet.
    »Ich war damals ein richtiger Hallodri«, gesteht er, »aber ich sage dir, sie hat mir vielleicht den Kopf gewaschen. Ich hatte richtig Bammel vor ihr.«
    »Wieso, was hat sie denn gesagt?«
    »Das weiß ich nicht mehr so genau«, sagt er und runzelt angestrengt die Stirn, »ich weiß jedoch noch, wie sie gerochen hat. Damals trug sie immer ein Maiglöckchen-Parfum, und ich weiß noch, wie ich dachte, sie riecht wie ein Sommertag …«
    Er bricht ab und lächelt stillvergnügt in sich hinein, und man sieht ihm an, dass er gerade dort ist, in dem Moment, als er ein übermütiger junger Kerl Mitte zwanzig war und mit dem hübschen jungen Mädel flirtete, das einmal seine Frau werden sollte.
    »Von da an konnte ich mir ein Leben ohne Enid nicht mehr vorstellen. Nach unserer Hochzeit waren wir keine einzige Nacht mehr voneinander getrennt, selbst unsere Kinder sind bei uns zu Hause auf die Welt gekommen …« Er unterbricht sich, und ich sehe, wie sein Lächeln verblasst. »Bis sie ins Krankenhaus gekommen ist …« Er schluckt schwer und starrt ins Leere, und seine Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. »Ich werde nie vergessen, wie ich auf die Station gekommen bin und sie da liegen sah … Ich hatte solche Angst um sie, und sie war so tapfer … sie zu verlieren, das war der schlimmste Tag meines Lebens.« Er dreht sich zu mir um, und seine Augen sind rot und glänzen vor Tränen. »Ich dachte, ich sterbe, so sehr habe ich sie vermisst, weißt du.«
    Mir schnürt es die Brust zu. Ihn so zu sehen bricht mir beinahe das Herz. »Wünschst du dir nicht manchmal, du hättest das nie durchmachen müssen?«, frage ich. »Du könntest diese schmerzhaften Erinnerungen auslöschen, vergessen, dass es überhaupt passiert ist, und dich nur an die schönen Zeiten mit ihr erinnern?«
    »Was für ein Unsinn«, rügt er mich streng.
    »Warum denn?« Erstaunt sehe ich ihn an.
    »Weil du ohne die schlechten Erinnerungen die guten nicht schätzen kannst. Die darfst du dir nicht fortwünschen. Wie hat deine Nan immer gesagt: ›Für einen Regenbogen braucht es Sonne und Regen.‹«
    Entschlossen schaut er mich an. »Ich möchte nichts vergessen. Ich habe nur noch die Erinnerungen an deine Nan. Ob gut oder schlecht, ich will keine davon verlieren.«
    »Wirst du auch nicht«, sage ich rasch. »Wir werden Nan nie vergessen, keiner von uns.«
    »Trotzdem …« Er sieht mir in die Augen. »Ich weiß, was alle denken.«
    »Was denn?«, frage ich stirnrunzelnd.
    »Dass ich langsam tüddelig werde … wie nennt man das heute? Alzheimer.«
    »Nein, das denken wir nicht«, widerspreche ich entschieden, aber es versetzt mir einen Stich, weil ich an das Gespräch zwischen meinen Eltern und dem Pflegepersonal denken muss; dass die Rede davon war, ihn einem Arzt vorzustellen; und was ich Fergus kürzlich gestanden habe. Ich möchte meinen Opa nicht anlügen, doch wie soll ich ihm das sagen? Wie soll ich ihm die Wahrheit sagen?
    »Ich habe die Broschüren gesehen, und ich weiß, dass Cyril es hat, der am anderen Ende des Gangs wohnt. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, wo er ist …« Betroffen schüttelt er den Kopf. »Und das macht mir Angst, Tess – es erschreckt mich zu Tode.«
    Zum ersten Mal im Leben sehe ich Angst im Gesicht meines Großvaters, ich sehe, wie bestürzt er ist, und möchte ihn so gerne trösten.
    »Du schaffst das schon, Opa«, versuche ich ihm gut zuzureden.
    »Meinst du?«, fragt er. »Jeden Tag vergesse ich ein bisschen mehr. Meine Erinnerungen werden mir gestohlen, dabei versuche ich so sehr, sie festzuhalten …« Er ballt die knochige Hand zur Faust, als hielte er sie in den Fingern, »aber sie entgleiten mir, und ich kann nichts dagegen tun. Ich vergesse Namen, Zeiten, Orte …« Er seufzt entnervt. »Wir sind die Summe unserer Erinnerungen, Tess. Erinnerungen sind unser kostbarstes Gut. Ganz gleich, ob gut oder schlecht. Durch sie werden wir erst zu dem, was wir sind. Was wären wir ohne sie?«
    Er schaut mich an, und ich sehe Wut und Verzweiflung in seinen Augen. Und nackte Angst. »Ich habe Angst, sie zu vergessen. Dann erinnere ich mich nicht mehr daran, wie sie aussah, an ihre Stimme, an unsere gemeinsamen Momente.« Seine Stimme zittert, und er bricht ab.
    Zärtlich lege ich ihm den Arm um die Schultern und drücke ihn fest an mich. Seine Angst ist fast spürbar, und ich stemme mich dagegen. Mein Opa hat sich um mich

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