Der Wunschtraummann
kam. Ich spielte den Esel und hatte überhaupt keinen Text, aber mein Opa hat jedes Mal, wenn ich auf die Bühne kam, lautstark und langanhaltend applaudiert, sehr zum Verdruss der anderen Anverwandten im Publikum. Bis heute behauptet er steif und fest, der Esel hätte allen die Show gestohlen.
»Also, meinst du, das könnte gehen?«, frage ich und schaue ihn an.
»Tja, mal sehen …« Er öffnet eine Schublade und nimmt ein Maßband heraus, dann stemmt er sich vom Sofa hoch und geht zur Nähmaschine. »Wenn man das hier an der Kante entlang aufschneidet und da einen Hohlsaum näht …« Während er ansetzt zu erklären, flitze ich rüber und ziehe mir einen kleinen Schemel heran, mit dem ich mich neben ihn setze. Und dann sehe ich zu, wie seine blassen, pergamentenen Hände plötzlich flink werden und sich fachmännisch daranmachen, an der Nähmaschine Knöpfe und Hebel zu bedienen.
»Juhuuuu …«
Eine hohe Frauenstimme unterbricht uns, und dann schaut ein lavendelblau gefärbter Lockenkopf um die Ecke.
»Die Tür war angelehnt, und ich habe Stimmen gehört …«
»Ach, hallo, Phyllis«, sage ich lächelnd.
Wenn man bedenkt, wie sorgfältig ich die Tür hinter mir geschlossen hab und wie schwerhörig Phyllis ist, dann weiß ich nicht so recht, ob ich ihr das glauben soll, aber das ist eigentlich auch ganz egal. Ich mag Phyllis. Sie ist eine Witwe Mitte achtzig, ihr Zimmer liegt gleich den Gang hinunter, und immer schaut sie mit Scrabble-Brett und Teegebäck bei meinem Opa vorbei. »Wusstest du, dass dein Großvater ein echtes Naturtalent ist? Ich habe noch nie gesehen, dass einer so viele Wörter mit sieben Buchstaben legt!«
Wenn man mich fragt, ich habe so den leisen Verdacht, dass sie eine kleine Schwäche für meinen Opa hat, aber als ich das ihm gegenüber mal erwähnte, meinte er nur, ich solle mich nicht lächerlich machen. »In unserem Alter hat man keine Schwäche für irgendwen, in unserem Alter hat man höchstens eine Herzschwäche«, erklärte er bestimmt.
»Frohes neues Jahr, wie geht es Ihnen?«, frage ich und umarme das zierliche Persönchen.
»Ich lebe noch«, kichert sie. »Und wie geht es dir? Hast du einen neuen Verehrer?«
Bei dem Wort »Verehrer« muss ich lachen. Es ist so herrlich altmodisch, dass man gleich an Tanztees und lange Spaziergänge entlang der Uferpromenade denkt. Klingt viel besser als unsere modernen Bezeichnungen, überlege ich und muss an Fiona denken, die vor ihrem Rechner hockt und sich auf VerwandteSeelen RU s.com Profile anschaut und sich die Fotos von tausenden von Männern ansieht, die allesamt snowboarden oder tauchen oder Bungee springen. Man muss fast vermuten, jeder männliche Single in London sei Extremsportfanatiker.
»Ich hatte einen … aber wir haben uns vor einiger Zeit getrennt«, sage ich und versuche ganz beiläufig und unbeteiligt zu klingen, als mache mir das gar nichts aus.
Mitfühlend schnalzt sie mit der Zunge. »Tja, keine Sorge, in deinem Alter haben auch andere Mütter noch jede Menge schöner Söhne. Wenn man erst mal so alt ist wie ich, dann sieht die Sache schon ganz anders aus. Da ist die See leergefischt, und nur noch ein paar alte Seepocken sind übrig …« Sie grinst ihr rosarotes Dritte-Zähne-Lächeln und weist auf meinen Opa.
»Bezeichnest du mich etwa als Seepocke?«, knurrt er, dann wendet er sich wieder mir zu und fragt streng: »Was redest du da von diesem Kerl?«, wobei er klingt wie ein sizilianischer Mafiapate, der die Familienehre schützen will, und nicht wie mein siebenundachtzigjähriger Großvater.
Phyllis schnalzt vernehmlich mit der Zunge. »Sie braucht deine Erlaubnis nicht, dass du das weißt.«
»Das weiß ich selbst«, gibt er aufgebracht zurück, zieht die Pfeife aus der Tasche und klopft energisch die Asche aus dem Kopf. »Ich wusste bloß nichts von einem Kerl.«
»Du erinnerst dich doch sicher noch an Sebastian. Ich habe ihn einmal mit hierhergebracht«, versuche ich seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, obwohl ich mich innerlich dagegen sträube.
Nun ist es ja nicht weiter ungewöhnlich, wenn das erste Zusammentreffen zwischen Vater und neuem Freund ein bisschen holprig verläuft. Schließlich ist man Papas kleines Mädchen, und nun ist man plötzlich erwachsen und hat unglaublichen, phänomenalen Sex mit dem Typen, der neben Papa auf der Sofakante hockt und versucht, nett mit ihm über Traktoren zu plaudern. (Fragen Sie mich jetzt nicht, wieso mein Vater das Gespräch auf Traktoren
Weitere Kostenlose Bücher