Der Wunschtraummann
einen neuen aus der Packung auf dem Tisch nehme und ihm gebe. Ich komme mir vor wie eine Krankenschwester im OP , die dem Chirurgen das Besteck reicht. »Also, bist du nun hier, um mich aufzuheitern, oder willst du mich rücklings abmurksen, indem du meine Fähigkeiten als Pokerspieler in den Schmutz ziehst?« Er schaut mich über den Rand seiner Brille an wie früher, wenn ich unartig war.
»Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte«, protestiere ich.
»Braves Mädchen«, meint er zwinkernd, und ich muss dann doch lachen.
»Und um dich abzumurksen, würde es wohl ein bisschen mehr brauchen«, erkläre ich neckisch.
»Das sagen die Pflegerinnen auch immer«, entgegnet er lachend, greift in die Brusttasche und holt seinen Tabakbeutel heraus. Dann macht er sich daran, die Pfeife zu stopfen. Dieses kleine Ritual habe ich schon tausend Mal beobachtet, aber es fasziniert mich immer noch. Er geht dabei so überlegt und sorgfältig vor. Als Kind hat er mir immer erklärt, eine Pfeife müsse man stopfen wie eine dreiköpfige Familie …
In meinem Kopf läuft die Erinnerung ab wie ein kleiner Videofilm: Ich, wie ich als kleines Mädchen auf seinem Schoß sitze und er zu mir sagt: »Zuerst tätschelst du den Tabak sanft wie ein kleines Kind, siehst du?« Und dann nimmt er meine Finger und klopft damit leicht auf die weichen, federnden Fasern. »Dann füllst du etwas nach und drückst ein wenig fester, so wie die Mutter es tun würde.« Und damit presst er den Tabak mit meinen Fingern etwas fester in die Pfeife. »Und dann nimmt man noch etwas mehr und stopft ihn ganz fest hinein, so wie der Vater es machen würde.« Und damit legt er seine Hand fest um meine kleinen Finger und drückt den Tabak fest in den Pfeifenkopf.
»Und jetzt gib mir die Streichhölzer«, sagt er nun und reißt mich aus meinen Tagträumen. Er weist auf eine kleine Schale, in der Streichholzschachteln und -heftchen in allen Größen und Formen liegen.
»Opa!«, zische ich und schaue ihn missbilligend an. »Du kannst doch hier drinnen nicht rauchen, die werfen dich noch raus!«
»Schön wär’s«, brummt er.
Ich gebe mich geschlagen. »Na ja, also gut, ausnahmsweise, aber lass mich erst das Fenster aufmachen.« Rasch gehe ich zum Fenster und öffne es, dann greife ich nach einem der Streichholzschächtelchen. Mein Blick fällt auf den Schriftzug: The Savoy. Das macht mich plötzlich sehr traurig. Als er noch in der Savile Row arbeitete, ging mein Opa immer in all diese tollen Restaurants und Hotels. Es ist sicher nicht leicht für ihn, jetzt hier zu sein.
»Komm her, lass mich das machen«, erbiete ich mich und zünde ihm ein Streichholz an. Zum Teufel mit Hemmingway House und seinen Regeln.
Verblüfft schaut mein Opa mich an, dann beugt er sich mit der Pfeife im Mund nach vorne. Er zieht ein paar Mal kräftig und pustet dann eine süßlich duftende Rauchwolke aus. »So, und nun zurück zu der Jacke, die du nähen willst«, sagt er und dreht sich wieder zur Nähmaschine um.
»Nein, es war eine Tasche, schon vergessen?«
Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine steile Falte, und es kostet ihn sichtlich Mühe, sich daran zu erinnern.
»Natürlich«, sagt er und nickt energisch. »Ich war nur gerade etwas durcheinander.« Entschlossen greift er zu dem Stoff. »Also dann, los geht’s, an die Arbeit.«
Ich setze mich neben ihn, und sofort fällt die Anspannung von mir ab. Ich sollte mir nicht immer so viele Sorgen machen. Es ist alles in bester Ordnung. Mein Opa wird bloß ein bisschen vergesslich. Darum kann er sich auch nicht an Seb erinnern. Und das hat wahrscheinlich nur mit seinem Alter zu tun.
Schnell schiebe ich alle trüben Gedanken beiseite und lehne die Wange gegen seine Schulter, während er die Nähmaschine startet. Das mag ich ganz besonders. Zuzusehen, wie meine Ideen Gestalt annehmen. Zuzusehen, wie etwas Altes in etwas Neues verwandelt wird. Es ist fast wie Zauberei.
Und so beobachte ich mit einem freudigen Kribbeln, wie die Nadel lossaust und über den Stoff tanzt.
Achtes Kapitel
Nach ein, zwei Stunden an der Nähmaschine wird es langsam Zeit für mich zu gehen. Ich nehme den Stoff, der bereits Form annimmt, und verspreche, bald zu einer weiteren Lehrstunde wiederzukommen. »Und du gibst dir bitte Mühe, bis dahin keinen Ärger zu machen«, ziehe ich ihn lächelnd auf und gebe ihm einen Kuss auf die Wange, die rau ist wie Schmirgelpapier.
»Mache ich«, entgegnet er vergnügt und ganz offensichtlich ohne die geringste
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