Der Wunschtraummann
blinkend aus der Haltebucht fahren will. Wie gesagt, ich bin mir sicher, das Ganze war bloß ein Missverständnis.
Mit meinem Fahrausweis wedelnd hopse ich in den Bus und steuere einen freien Platz im Fond an. Nach der bitteren Kälte draußen genieße ich die stickige Wärme im Bus, lehne den Kopf gegen das Fenster und schaue hinaus. Was sollte es auch sonst sein, wenn kein Missverständnis?
Zwanzig Minuten später hat der Bus einen der grünen Londoner Vororte erreicht, und ich steige vor dem Hemmingway House aus, einem glänzenden roten Backsteingebäude, das aussieht, als hätte man es aus Lego-Klötzen zusammengebaut und mitten in einen Park gesetzt. Der farbenfrohen Broschüre nach, in der zwei Zeichentrickfiguren namens Doris und Bert mit lockigen grauen Haaren und Dritte-Zähne-Lächeln ihr Unwesen treiben, ist Hemmingway House nach eigenen Aussagen eine »gehobene Seniorenresidenz mit vielfältigen Angeboten für betreutes Wohnen«.
»Betreutes Wohnen, dass ich nicht lache, das ist hier wie bei Big Brother«, pflegt mein Opa immer zu sagen. Aber Opa Connelly konnte es noch nie leiden, wenn ihm jemand vorschreiben wollte, was er zu tun und zu lassen hat. Nicht mal seine Frau, als sie noch lebte. Als sie ihm einmal verbot, im Haus Pfeife zu rauchen, da schleppte er den tragbaren Fernseher ins Gartenhäuschen, bugsierte seinen Sessel nach draußen und weigerte sich wochenlang, wieder hineinzukommen. Meine Oma meinte, er wäre sicher für den Rest seines Lebens da draußen geblieben, wäre nicht irgendwann der britische Winter gekommen und hätte ihn wieder ins warme Haus getrieben. »Ein Sturkopf ist er, aber kein Dummkopf«, pflegte sie immer zu sagen.
Durch die Doppeltür am Eingang gehe ich zur Rezeption, die vollgestopft ist mit Topfpflanzen und Rattanmöbeln wie ein Wintergarten. An den Wänden hängen gerahmte Fotos, auf denen Senioren bei einigen der angebotenen Freizeitbeschäftigungen zu sehen sind. Wobei ich den Verdacht habe, dass es sich um gestellte Fotos mit eigens engagierten Models handelt, nicht um echte Bewohner von Hemmingway House, denn bisher habe ich noch nie gesehen, dass hier irgendwer auf einer sonnenüberfluteten Terrasse einen gepflegten Rosé trinkt. Normalerweise wird hier eher im stickigen Gesellschaftsraum Scrabble gespielt.
»Hallo, Tess.« Gerade als ich um den Empfangsschalter gehe, laufe ich Melanie über den Weg, einer der jüngeren Pflegerinnen hier. Mel trägt knallpinke Dreadlocks und ein Nasenpiercing und ist bei sämtlichen Bewohnern sehr beliebt, weil sie alle wie Freunde behandelt, nicht wie lästige Plagegeister, die man herumkommandieren kann. Arm in Arm kommt sie mir mit einem ihrer Schützlinge entgegen und lächelt mich strahlend an. »Suchst du deinen Opa?«
»Hi, Mel«, sage ich und erwidere ihr Lächeln, während ich Handschuhe und Schal ausziehe. Himmel, hier drinnen ist es immer drückend heiß. Kein Wunder, dass die Bewohner ständig im Sessel einnicken. Bei dieser Hitze will man sich doch am liebsten hinlegen und Siesta machen. »Wie geht es ihm?«
»Er bringt die anderen mal wieder auf dumme Gedanken«, antwortet statt Mel die griesgrämige Personalchefin Miss Temple von ihrem Platz hinter dem Schalter. Sie hebt kurz den Blick von ihren Unterlagen, nimmt die Lesebrille ab und stiert mich finster an.
Oje . Mir wird ein bisschen bange. Was hat er denn jetzt schon wieder angestellt?
»Ach?«, entgegne ich mit Unschuldsmiene, als könnte ich mir gar nicht vorstellen, was sie damit meint. Aber ich mache niemandem was vor, am allerwenigsten Miss Temple. Seit meine Eltern nach Australien geflogen sind und ich für meinen Opa verantwortlich bin, hat sie mich bereits dreimal angerufen, um sich über sein ungebührliches Betragen zu beklagen.
Beim ersten Mal hatte er seine Jazz-Platten zu laut aufgedreht und weigerte sich standhaft, die Lautstärke ein wenig herunterzudrehen; beim zweiten Mal war er mitten in der Nacht in die Küche eingebrochen und hatte Pfannkuchen gebacken; und beim dritten Mal hatte er im Haus Pfeife geraucht. »Hemmingway House ist eine Nichtrauchereinrichtung, Miss Connelly«, hatte sie am Telefon lamentiert, »und Ihr Großvater verstößt vorsätzlich gegen die Regeln.«
»Er ist in seinem Zimmer«, unterbricht Melanie ihre Chefin und zwinkert mir kurz zu. »Als ich das letzte Mal vorbeigeschaut habe, spielte er gerade Poker.«
»Okay, danke«, sage ich lächelnd und versuche, Miss Temples finsterem Blick auszuweichen, dann
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