Der Wunschtraummann
Mum.
»Fiona?«, versuche ich Zeit zu schinden in der Hoffnung, das Gespräch möge nicht die Richtung einschlagen, die ich befürchte und die doch unvermeidlich erscheint.
»Ist das die Abkürzung von Sebastian?«, fragt Mum.
Aber es nützt alles nichts. Ich kann es nicht aufhalten. Alles beginnt wieder von vorne.
»Ähm … ja«, bringe ich mühsam hervor. Auf einmal ist mir leicht schwindelig.
»Den hast du noch nie erwähnt«, fährt sie munter fort. »Ist er nett?« Und das von der Frau, die völlig hin und weg war, als ich Seb kennengelernt hatte, und die man mit körperlicher Gewalt davon abhalten musste, sich einen neuen Hut zu kaufen, als wir unser Halbjähriges feierten.
»Ähm … ja«, stammele ich wieder. In meinem Kopf dreht sich alles, und ich versuche verzweifelt, mich irgendwo festzuklammern, aber die Erde scheint ins Wanken zu geraten und sich unter mir aufzutun. Das ergibt doch alles keinen Sinn. Entweder die ganze Welt ist verrückt geworden oder …
Bei dem Gedanken erstarre ich vor Schreck, und meine Gedanken laufen in meinem Hirn herum wie eine panische Maus in einem Labyrinth, die verzweifelt den Weg nach draußen sucht.
Oder ich bin verrückt.
Irgendwie schaffe ich es, Mum am Telefon abzuwimmeln, was wirklich nicht leicht ist, weil sie mir unbedingt noch erzählen muss, dass sie ein Blumenkohl-Rezept aus Jamie Olivers neuem Kochbuch, das sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hat, für Blumenkohl nachgekocht hat und dass es »offen gestanden nicht halb so gut war wie der Blumenkohl, wie ihn deine Oma immer gemacht hat«, um dann ihre Vorschläge anzubringen, wie Jamie sein Rezept noch verfeinern könnte: »Einfach mit meiner Geheimzutat bestreuen, Kaffeepulver, und dann unter dem Grill bräunen.«
Ja, klar, Mum. Bestimmt ist dieser mega-erfolgreiche millionenschwere Chefkoch ganz versessen darauf, deine Vorschläge für die Verfeinerung seines Blumenkohls aufzugreifen. Und außerdem, nichts für ungut, aber Blumenkohl – sei es nun der meiner seligen Großmutter oder der von Jamie – steht augenblicklich nicht unbedingt ganz oben auf meiner Prioritätenliste, denn ich glaube, ich verliere gerade den Verstand.
Weil ich das ungute Gefühl habe, jeden Augenblick eine ausgewachsene Panikattacke zu bekommen, atme ich ein paarmal tief durch.
Okay, reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen.
Ich schließe die Augen, drücke mit den Fingern gegen die Nasenwurzel und versuche, mich zu entspannen. Es besteht kein Grund, in Panik zu verfallen und den Kopf zu verlieren. Das bringt ja auch nichts. Nein, ich muss jetzt Ruhe und einen klaren Kopf bewahren. Ruhig bleiben und nachdenken. Ja, genau, ermahne ich mich und sage es mir immer wieder auf. Schließlich muss es doch eine rationale Erklärung dafür geben. Muss es einfach.
Ich konzentriere mich. Es dauert ein paar Sekunden, und dann …
Ich weiß! Womöglich macht gerade eine seltsame Art selektiver Amnesie die Runde, ein bisschen wie bei der Schweinegrippe, und alle haben sich damit angesteckt, bloß ich nicht. Weshalb ich auch nicht verrückt werde, sondern die anderen vergesslich. Im Winter wimmelt es doch überall nur so vor Viren. Und vielleicht brauchen die bloß ein Antibiotikum oder eine Impfung oder so, und dann …
Was dann, Tess? Dann fällt allen plötzlich wieder ein, wer Seb ist? Obwohl ich einsehen muss, wie hirnrissig diese Erklärung ist, zerbreche ich mir unverdrossen weiter den Kopf.
Moment, mir kommt da noch eine andere Idee! Vielleicht hat Fiona sich ja einen Spaß erlaubt und alle in diesen kleinen Streich eingeweiht. So wie am ersten April, bloß im Januar. Und vielleicht gesteht sie mir in ein paar Stunden, dass sie mich bloß aufziehen wollte, haha, lustig, was?
Triumphierend klopfe ich mir auf die Schulter: Die Idee klingt doch schon viel besser! Aber gleich darauf stellen sich schon wieder nagende Zweifel ein. Ja, es könnte tatsächlich eine Möglichkeit sein, je länger ich jedoch darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher erscheint es mir. Zum einen spielt Fiona anderen keine Streiche. Sie kann ja nicht mal Witze erzählen. Erst neulich waren wir mit einigen Freunden im Pub und haben Witze erzählt, und als sie dann an der Reihe war, meinte sie nur ganz trocken: »Der einzige Witz, den ich kenne, ist mein letzter Exfreund Lawrence.«
Und dann meine Mum. Die kann ein Geheimnis nicht länger als zwei Sekunden für sich behalten, ohne sich zu verplappern. Ja, sie ist sogar berühmt-berüchtigt dafür, im
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