Der Wunschtraummann
zu erinnern …
»… ein uraltes Ritual … alles, wovon man sich befreien will … schmerzhafte Erinnerungen, Verletzungen … und dann wirft man um Schlag Mitternacht alles ins Feuer.« Ich krame noch tiefer in meinen Erinnerungen: »… viele Kulturen glauben, durch Verbrennen könne man sich unliebsamer Dinge entledigen … und so nimmt man diese Last nicht mit ins neue Jahr …«
Auf einmal wird mir heiß und kalt.
Doch dann schiebe ich diesen abwegigen Gedanken entschieden einen Riegel vor. Bitte, er hatte bunte Glitzerhörnchen auf dem Kopf, verdammt noch mal. Als würde ich glauben, was der da erzählt hat. Das ist doch bloß abergläubisches Geschwätz. Ich müsste ja völlig irre sein.
»Aber trotzdem …«
Ein winziger Zweifel sät sich in mein Hirn. Es ist vollkommen verrückt. Unmöglich. Absolut undenkbar. Und ich kann es kaum fassen, dass ich auch nur einen Gedanken daran verschwende, trotzdem … würde es einiges erklären, auch wenn es völlig abgedreht wäre. Dass ich, indem ich all die Sachen von Seb ins Feuer geworfen habe, wie durch einen Zauber alle Erinnerungen vernichtet habe, alle unsere Verabredungen ausgelöscht und unsere gemeinsame Zeit ungeschehen gemacht habe. Ich habe unsere Beziehung ausradiert. Ich habe uns ausradiert.
Bis auf die Einträge in meinem Tagebuch, das einzige winzig kleine Beweisstückchen, das wie durch ein Wunder unversehrt geblieben ist und verhindert hat, dass er völlig aus meinem Kopf und meinem Herzen verschwindet, ist es, als sei das alles nie passiert .
Wieder höre ich die Stimme der Moderatorin in meinem Kopf. »… dann stieben Funken auf und fliegen in den Himmel. Und dann darf man sich etwas wünschen! Denn was immer man sich wünscht, wird von diesen Funken ins neue Jahr getragen …«
Sofort muss ich an diesen Abend denken. An den Funken, den ich in den Kamin aufsteigen sah, als ich alles ins Feuer geworfen habe. An meinen Wunsch.
Das Herz hämmert mir in der Brust, als es mir wieder einfällt.
Ich wünschte, ich wäre ihm nie begegnet!
Und nun ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. Und ich bin ihm nie begegnet.
Ein lautes Summen reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist die Gegensprechanlage im Flur. Dumpf höre ich Stimmengemurmel aus dem Hintergrund, und dann ruft Fiona: »Tess, für dich.«
»Wer ist denn da?«, frage ich, als ich die Sprache wiedergefunden habe.
Aber ich bekomme keine Antwort. Irgendwie ärgere ich mich. Wer immer das sein mag, ich will ihn gar nicht sehen. Ich will niemanden sehen. Und so bleibe ich reglos sitzen und hoffe insgeheim, wenn ich den ungebetenen Besucher ignoriere, könne er vielleicht einfach wieder verschwinden.
»Tess!«
Wieder Fiona. Ich muss mich zwingen, nicht einfach »Verschwinde!« zurückzubrüllen, und rappele mich mühsam auf. Kurz schaue ich in den Spiegel und versuche, meine Haare ein bisschen glattzustreichen, lasse es dann aber einfach sein und tappe entnervt den Flur entlang. Im Türrahmen steht Fiona, die im Bademantel die Sicht auf den Besucher versperrt, der da vor der Tür steht.
Sie redet gerade mit ihm, aber als ich dazutrete, dreht sie sich zu mir um. »Da bist du ja!«, rüffelt sie mich mit ihrer lieblichsten Sonntagsstimme. »Du hast wohl deine Tasche im Laden stehen lassen.«
»Meine Tasche?« Ich hatte heute zwei Taschen dabei, da mein Laptop und alles andere nicht in meinen Lederrucksack gepasst haben. Und jetzt erst geht mir auf, dass ich mit nur einer Tasche nach Hause gekommen bin. Die andere muss ich irgendwo vergessen haben. Herrje, ich bin aber auch so ein Schussel …
»Also ehrlich, Tess, wo hast du bloß deinen Kopf gelassen?« Sie lacht glockenhell auf. So lacht sie nur, wenn ein Mann in der Nähe ist. »Dein Glück, dass dieser nette junge Mann sie gefunden hat.« Aha, wusste ich es doch.
Strahlend übers ganze Gesicht weist sie auf die Person, die da in der Tür steht.
»Ach je, danke …« Ich trete an die Tür, und Fiona macht einen Schritt beiseite, sodass ich den Fremden sehen kann.
Bloß ist es kein Fremder.
Mir bleiben die Worte im Halse stecken. Ach du liebe Güte, was macht Seb denn hier?
»Die hast du vergessen.« Mit einem schiefen Grinsen hält er mir meine Tasche hin.
Verständnislos gucke ich ihn an, und dann geht mir ein Licht auf. Ich habe neben ihm gesessen. Und dann bin ich Hals über Kopf aus dem Laden gestürzt …
Plötzlich wird mir klar, dass ich reglos dastehe und ihn blöd anglotze.
»Ähm, ja, danke«, meine ich nur und nehme
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