Der Wunschtraummann
Das ist das Schöne an diesen kleinen Secondhandläden: Alles hat eine Geschichte, alles hat eine Vergangenheit, und Erinnerungen hängen daran, alles erzählt eine Geschichte. Es ist faszinierend, sich vorzustellen, was hinter den Gegenständen steckt, an die fremden Menschen zu denken, die man nie kennenlernen wird, aber die doch dein Leben berühren, durch eine Vase, die mal ihnen gehört hat und die nun mit frischen Frühlingsblumen gefüllt bei dir zu Hause steht.
Am Ende finde ich noch etliche bunt gemusterte Mehlsäcke, die ich zusammen mit einer alten Latzhose mit Lederriemen erstehe. Dann gebe ich der Verkäuferin noch schnell meine Nummer, für den Fall, dass die alte Dame noch einmal wiederkommen sollte, verlasse den Laden und steige in den Bus.
Ausnahmsweise herrscht kaum Verkehr, und als ich in Hemmingway House ankomme und zum Empfang gehe, unterhält Miss Temple sich gerade mit einer Angestellten. Rasch ziehe ich den Kopf ein und versuche mich vorbeizuschleichen, ehe sie mich sieht.
»Ach, Miss Connelly …«
Aber das ist natürlich aussichtslos. Sich an Miss Temple vorbeizuschleichen ist, als wolle man sich am Checkpoint Charlie vorbeimogeln. Ich schaue zu ihr rüber und hefte mir ein nonchalantes Lächeln ins Gesicht.
»Miss Temple«, sage ich.
»Wegen Ihres Großvaters …«
O nein, was denn jetzt schon wieder?
»Könnten Sie ihn bitte noch mal daran erinnern, dass das Spielzimmer zum Entspannen gedacht ist, als Ruheoase …«
Den restlichen Satz verstehe ich nicht mehr, weil er übertönt wird von einem lautstarken Tumult, der gewaltig wie eine Explosion durch die Flügeltüren dröhnt.
Zwei alte Damen, die gerade das Foyer durchqueren, schauen sich verschreckt an und klammern sich hilfesuchend aneinander.
Ach du Schande. Diesmal kriegt Opa gewaltigen Ärger.
»Ich sag’s ihm gleich!«, brülle ich, um mir bei dem Krawall Gehör zu verschaffen, und überlasse es Miss Temple, die beiden alten Damen zu beruhigen, die irgendwas von Blitzkrieg murmeln. Schnell gehe ich zum Spielzimmer.
Kaum komme ich durch die Flügeltür herein, nimmt der Lärm ohrenbetäubende Ausmaße an. Und ich dachte immer, im Altenheim sitzen die alten Leutchen stickend im Lehnstuhl. Vorsichtig trete ich zu der Menschenansammlung, die sich um einen großen Tisch am anderen Ende des Raums drängt. Im Näherkommen höre ich, dass ein Streitgespräch im Gang ist.
»Das geht nicht!«
»Geht wohl!«
»Aber das ist ja widerlich!«
»Na und? Es ist doch ein Wort oder etwa nicht?«
»Opa?«
Eine Entschuldigung murmelnd quetsche ich mich an dem glatzköpfigen Mann mit Elektromobil vorbei und sehe, wie Phyllis meinen Großvater anschnauzt, der seinerseits mit der Faust auf den Tisch haut. Als er meine Stimme hört, schaut er auf und späht durch seine Halbbrille, hinter der die blauen Augen blitzend über die Gesichter huschen, bis er mich schließlich entdeckt. »Tess, Liebes!«, tönt er und strahlt über das ganze Gesicht. »Was führt dich hierher?«
»Wir haben gestern telefoniert und ausgemacht, dass ich dich heute besuchen komme. Wir wollten an meiner Tasche weiterarbeiten, weißt du noch?« Ich lächele und versuche den beunruhigenden Gedanken zu verdrängen, dass sein Gedächtnis allem Anschein nach immer mehr nachlässt. »Schon vergessen?«
»Gar nicht, gar nicht«, protestiert er fröhlich. »Wir spielen gerade Scrabble.«
Scrabble? Erst da fällt mein Blick auf das Scrabble-Spielbrett auf dem Tisch.
»Deswegen streitet ihr euch?«, frage ich ungläubig.
Und ich dachte immer, Scrabble sei ein ruhiges, behäbiges Brettspiel, bei dem das Aufregendste, was je passiert, ein Wort mit sieben Buchstaben ist. Aber das ist doch kein Grund für Beinahe-Randale.
»Er hat ein sehr unflätiges Wort gelegt«, bezichtigt ihn Phyllis von der anderen Seite des Tischs.
»Opa!«, rufe ich schockiert.
»Das ist kein unflätiges Wort, es …«
»Wage es ja nicht, dieses Wort noch mal zu sagen, Sidney Archibald Connelly«, warnt Phyllis ihn und zeigt mahnend mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ihn. »Sonst mache ich dich zur Schnecke.«
Herrjemine. Wusste gar nicht, dass Phyllis einem solche Angst einjagen kann. Für mich war sie immer nur die nette alte Dame mit dem Teegebäck, die ein bisschen in Opa verschossen ist.
»Vielleicht sollten wir lieber gehen«, schlage ich taktvoll vor und schaue ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Was wollen wir wetten, dass es im Wörterbuch steht?«, fragt er herausfordernd,
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