Der Wunschtraummann
überhört meinen Einwand und greift nach dem dicken roten ledergebundenen Wälzer mitten auf dem Tisch.
Genau das ist das Problem bei meinem Opa. Er ist stur wie ein Esel.
»Opa«, zische ich und schaue ihn streng an.
»Na los, mach schon, schlag es nach«, sagt er höhnisch zu dem kahlköpfigen Mann auf dem Elektromobil, und man hört die versammelte Runde leise murren.
Ach du lieber Himmel! Scheint fast, als formierte sich hier ein Mob. Wenn das so weitergeht, setzen sie ihn ganz bestimmt bald vor die Tür. Miss Temple ist ohnehin schon auf dem Kriegspfad, und er hat schon mehr als eine gelbe Karte gesehen.
Todesmutig atme ich tief durch und trete zwischen die Streithähne. »Okay, das reicht«, sage ich und gebe mir große Mühe, sehr energisch zu klingen. »Das Spiel ist aus.« Und dann nehme ich das Scrabble-Brett und klappe es entschlossen zusammen.
»Ooooooooch.« Ein lautes enttäuschtes Aufseufzen geht durch die Menge.
»Tut mir leid«, sage ich zu den Mitspielern. »Aber wenn es nicht ohne Streit geht …«
Und da geht mir plötzlich auf, dass ich genau wie meine Mutter klinge, wenn sie mit mir und meinem Bruder schimpft. Wobei ich es halb so schlimm finde, wenn Eltern mit ihren Kindern schimpfen, aber wenn die Gescholtenen Erwachsene im Durchschnittsalter von achtzig sind, ist es doch ein bisschen peinlich.
Dann sage ich meinem Opa, er soll seinen Freunden auf Wiedersehen sagen, und führe ihn zurück auf sein Zimmer. »Also ehrlich, Opa«, tadele ich ihn, während ich die Kissen aufschüttele und ihn dann auf das Ledersofa setze, »eines Tages sitzt du hier noch bis zum Hals in der Tinte.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagt er und nickt kleinlaut, nimmt seinen Beutel Fruchtgummis und bietet mir etwas davon an. »Aber war doch lustig, oder?«, meint er dann mit einem schelmischen Blitzen in den Augen.
Meine Mundwinkel zucken. »Phyllis war stinksauer«, schimpfe ich, setze mich neben ihn und greife in die Tüte.
»Pah, Phyllis. Die liebt solche kleinen Streitereien, die bringen die Säfte in Wallung.« Er gluckst vergnügt. »Und außerdem war es kein unflätiges Wort, es war bloß …«
»Ich habe es auf dem Scrabble-Brett gesehen«, unterbreche ich ihn rasch, damit er es nicht noch mal wiederholt. Meinen guten Vorsätzen zum Trotz kann ich das Kichern kaum unterdrücken. Das ist das Problem bei meinem Opa: Man kann ihm einfach nicht böse sein. »Du bist schrecklich, weißt du das«, necke ich ihn und stupse ihn mit dem Ellbogen in die Rippen.
Er stupst zurück, und dann schauen wir uns an und prusten laut los vor Lachen.
»Wenn Nan noch am Leben wäre, sie würde dir den Mund mit Seife auswaschen«, kichere ich.
»Das wäre das Mindeste, was sie machen würde«, gluckst er, aber in seinen Augen schimmert ein Funken Traurigkeit auf, und sein Blick geht zu dem Schwarzweißfoto auf dem Beistelltisch. Es ist ihr Hochzeitsfoto, das vor beinahe fünfundsiebzig Jahren aufgenommen wurde. Sie sehen so jung aus – sie in ihrem schlichten weißen Kleid und er im altmodischen Anzug – und strahlen sich ganz aufgeregt an. Das ganze Leben liegt noch vor ihnen.
»Sie fehlt mir, weißt du«, sagt er leise.
»Ich weiß«, entgegne ich und habe plötzlich einen Kloß im Hals. Ich greife nach seiner knorrigen alten Hand und drücke sie fest. »Sie fehlt uns allen.«
Kurz bleiben wir so sitzen, dann schüttelt er sich ein wenig, als wolle er die Vergangenheit abschütteln, und wendet sich wieder an mich. »Also, junges Fräulein, was die Knöpfe angeht …« Er stemmt sich auf dem Sofa hoch, greift zu seinem Stock und geht an den Tisch mit der Nähmaschine. »Ich habe all die alten Knöpfe durchgesehen, die ich aufgehoben habe, und dabei habe ich die hier gefunden …« Er greift in die Schublade und verstummt.
»Opa?« Ich schaue ihn an. Er steht ganz reglos da und guckt sehr verwirrt. »Was ist denn los?«
»Sie sind weg!« Irritiert schüttelt er den Kopf.
»Ach, bestimmt nicht, die müssen irgendwo sein, bestimmt hast du sie nur verlegt …«
Aber er antwortet nicht, sondern kramt nur zunehmend aufgebracht in der Schublade herum.
»Hey, warte, ich helfe dir …« Ich springe vom Sofa auf und gehe zu ihm, doch er räumt bereits die ganze Schublade aus und verstreut den Inhalt über den Boden.
»Die muss jemand gestohlen haben!« Er schaut mich mit einem panischen Ausdruck in den blauen Augen an.
»Opa, bitte, lass mich dir helfen.« Man kann förmlich spüren, wie durcheinander er ist, und mir
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