Der Wunschzettelzauber
es vor ihn hin. »Wie heiÃt es so schön: Die Zeit vergeht im Fluge«, meinte sie und lächelte ihre erwachsenen Besucher an.
Für Chloe war es ein Schock, Rosine wiederzusehen. Die alte Dame wirkte so zerbrechlich wie ein kleines Vögelchen. Selbst ihre Stimme klang dünner, als käme sie von weiter her. Guillaume hingegen kannte Rosine nicht so gut, ihm fiel diese Veränderung wohl nicht auf. Und in Nicolasâ vierjährigen Augen sah sie genauso aus wie immer.
Der von Rosine vorbereitete delikate nachmittägliche Imbiss gestaltete sich stilvoll, und Chloe begann, sich wohler zu fühlen. Die französische Unterhaltung plätscherte dahin, und es bereitete ihr groÃes Vergnügen, ihrer eigenen und Nicolasâ Stimme zu lauschen, die sich so nahtlos einfügten. Guillaume, der vielleicht fühlte, dass dies ein ebenso wichtiger Besuch war wie die Vorstellung bei Chloes Eltern, war ganz sein charmantes Selbst, so wie Chloe ihn von Camilles und Pierres Hochzeit in Erinnerung hatte.
Rosine mochte gutaussehende Männer â die Beweise dafür hingen zahlreich an allen Wänden. Die alte Dame hatte Chloe einst erzählt, dass sie während ihres ereignisreichen Lebens neunmal verheiratet gewesen sei, und hinzugefügt »aber nur zweimal auf dem Papier«. Chloe blickte Guillaume von der Seite an und konnte sich gut vorstellen, wie er in Rosines Augen wirkte â ein Prachtexemplar von einem Mann, mit dem es Spaà machte zu flirten. Darüber hinaus konnte sie Rosines Gedanken nicht lesen.
Als sie sich wieder verabschiedeten, hielt Rosine Chloe an der Tür zurück und meinte: »Hat Guillaume nicht gesagt, dass er sich morgen mit seinen Cousins trifft? Na, wenn er beschäftigt ist, warum kommst du dann nicht mit Nicolas noch einmal zu mir? Wir könnten irgendwo nett zu Mittag essen und dann Nicolas den Montmartre zeigen, damit er ein bisschen Bewegung hat und auch Sacré-Coeur zu sehen bekommt.«
Und Chloe hatte zugestimmt und ihre Freundin nochmals zum Abschied auf die Wange geküsst.
40
Erotisches Fragezeichen
Chloe fand, dass die Kathedrale Sacré-CÅur weniger wie eine Kirche, sondern vielmehr wie eine riesige Hochzeitstorte aussah. Nachdem sie dieses berühmte Wahrzeichen des Montmartre besichtigt hatten, fuhren Rosine, Nicolas und sie mit der kleinen funiculaire, der Drahtseilbahn, den Montmartre hinunter, und Rosine zeigte Chloe einige ihrer Lieblingsläden.
Nicht weiter verwunderlich waren es raffinierte kleine Geschäfte, in denen geschmackvoll Schuhe, Bücher und Schmuck ausgestellt wurden. AuÃerdem gab es da eine nette, kleine Bildergalerie, ein absolut minimalistisch wirkender Raum, in dem an der gröÃten Wand ganz alleine ein groÃes abstraktes Gemälde von Charlie Kessler hing. Dieser unerwartete Anblick erlaubte es Chloe, Charlies Namen auszusprechen und ein paar Worte über ihn zu verlieren, wenn auch nur kurz und wie nebenbei. Rosine hingegen äuÃerte sich lobend â eine Künstlerin mit besonderem Draht zu dem Werk eines anderen â und bezeichnete die Komposition des Gemäldes als »aufwühlend« und »göttlich modern«.
»Was für ein interessanter Mensch er sein muss«, meinte die alte Dame, während sie das Bild mit seinen gebrochenen Fluchtlinien und den intensiven Farben betrachtete. »Dies hier ist sehr kraftvoll, ja, aber kennst du seine frühen Werke? Seine gegenständliche Arbeit? ÃuÃerst bemerkenswert.«
»Ja, in der Tate Modern hängt ein Bild von ihm«, meinte Chloe leichthin. »Es gefällt mir sehr.«
» Ah oui ?«, machte Rosine ohne weiteren Kommentar.
Die ganze Zeit über war nicht zu übersehen, wie zerbrechlich Rosine geworden war. Die alte Dame war nicht mehr sicher auf den Beinen, obwohl sie es geschickt verbarg, und im Tageslicht wirkte sie fast durchscheinend und so leicht, als könnte sie jeder Windhauch fortwehen.
Noch verstörender empfand Chloe es, dass Rosine diese Tatsache offen aussprach, als sie auf der Bank eines Spielplatzes saÃen und Nicolas zusahen, wie er mit einer kleinen Bande französischer Kinder auf einem Klettergestell herumturnte.
»Chloe, ma chère «, begann Rosine, »du steckst deinen Kopf nicht in den Sand, wie man so sagt. Du musst bemerkt haben, dass mich ein schrecklicher coup de vieux getroffen hat.«
Prendre un coup de vieux bedeutete, dass
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