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Der Zauber deiner Lippen

Der Zauber deiner Lippen

Titel: Der Zauber deiner Lippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: OLIVIA GATES
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Konkretes erinnern kann.“
    Immer noch kopfschüttelnd betrachtete er sie nachdenklich, und dieser Blick traf sie mitten ins Herz. Ob er das Gleiche dachte wie sie? Dass sie seinetwegen angefangen hatte, seine Muttersprache zu lernen? Um ihn besser verstehen zu können? Um ihm näher zu sein?
    „Wie auch immer“, bemerkte er schließlich. „Du kannst auf alle Fälle ausreichend Spanisch, um am Unfallort das Wesentliche mitbekommen zu haben.“
    Dann ist meine Reaktion ganz normal? fragte sich Cybele. Wut statt Trauer? Weil sie so mit dem Tod eines geliebten Menschen besser zurechtkam? Was Rodrigo wohl sagen würde, wenn sie ihn über ihre wahren Gefühle aufklärte. Dass sie erleichtert über Mels Tod war, weil sie ihn, Rodrigo, liebte? Wahrscheinlich würde er sie dann für ein Ungeheuer halten. Und das könnte sie ihm nicht einmal verdenken.
    Plötzlich hatte sie ein Bild vor Augen – deutlich und klar – und wusste nicht, woher es gekommen war. Sie sah Mel vor sich, ihren Mann, dessen Tod widerstreitende Empfindungen in ihr auslöste. Groll und Wut, aber auch Erleichterung und das Gefühl von Freiheit.
    Mel saß in einem Rollstuhl.
    Und plötzlich wusste sie es. Mel war von der Taille abwärts gelähmt gewesen. Er hatte einen Autounfall gehabt. Ob sie bereits verheiratet gewesen waren, als es passierte, konnte sie nicht sagen. Und es spielte auch keine Rolle mehr. Doch warum war sie derart wütend auf jemanden, der ein solch schweres Schicksal hatte erdulden müssen? Den sie versprochen hatte zu lieben, was auch immer ihm widerfahren würde? Stattdessen war sie froh, dass sie ihn los war. Wie unmenschlich!
    „Cybele, hast du Schmerzen?“ Besorgt blickte Rodrigo sie an.
    Oh, nein, sie hatte keine Schmerzen.
    Aber noch immer konnte sie sich nicht wieder an alles erinnern.
    Sie war ein Unmensch.
    Und sie war schwanger.
    Ein paar qualvolle Übelkeitsattacken später lag Cybele erschöpft in ihrem Bett. Rodrigo saß am Rand der Matratze, massierte Cybele sanft die Schläfen und strich ihr immer wieder mit einem kühlen feuchten Tuch über Lippen und Augenlider. Sie seufzte leise auf. Wie wohl das tat. „Ist dir noch etwas eingefallen?“, fragte er leise.
    „Ja, ein bisschen was.“ Mühsam setzte sie sich auf. Viel lieber hätte sie sich in seine Arme geschmiegt und sich von ihm trösten lassen. Aber ihr schlechtes Gewissen quälte sie. Er hatte ihr geholfen, sich aufzurichten, löste sich dann aber schnell wieder von ihr. Offenbar scheute er den körperlichen Kontakt zu ihr.
    Nun gut, wenn er es nicht anders wollte … Sie schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die Hausschuhe, die Rodrigo neben ein paar anderen Kleidungsstücken für sie besorgt hatte. Eigentlich erstaunlich, dass er bei allem genau ihre Größe getroffen hatte. Alles passte wie angegossen. Langsam ging sie zu dem großen Fenster hinüber, wobei sie den Infusionsständer vor sich herschob. Vom Fenster aus hatte sie einen fantastischen Blick über sanfte grüne Hügel, aber all das nahm sie nicht wahr. Entweder sah sie Rodrigo vor sich oder Mel in seinem Rollstuhl, das Gesicht bleich und eingefallen, der sie anklagend ansah.
    Sie wandte sich so hastig um, dass sie fast gefallen wäre. Rodrigo war auf dem Sprung und wäre sofort an ihrer Seite gewesen, wenn sie das Gleichgewicht verloren hätte. Glücklicherweise fand sie Halt an der Wand. Denn sosehr Cybele sich auch nach seiner Berührung sehnte, sie wusste, es durfte nicht wieder geschehen. Vorsichtig strich sie sich über die linke Schulter, die immer noch schmerzte, dann ließ sie den Kopf sinken, überwältigt von der Trostlosigkeit ihrer Situation.
    „Was mir gerade einfiel“, fing sie langsam und stockend an, „ich meine die Bilder, die ich eben vor mir gesehen hab … Man kann sie nicht mit den Erinnerungen vergleichen, die Stück für Stück zurückgekommen sind, seit ich aus dem Koma aufgewacht bin. Die waren kräftig, bunt und lebendig … Aber die letzten Bilder waren eher grau und verschwommen, außerdem leblos und starr wie unvollkommene Hinweise auf etwas, das mein Kopf sich zu erinnern weigert.“
    Rodrigo sah kurz zu Boden, dann hob er den Blick und musterte Cybele nüchtern. „Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Ich habe mit vielen Patienten zu tun gehabt, die wegen eines Traumas vorübergehend ihr Gedächtnis verloren hatten, und habe die Literatur zu diesem Phänomen genau studiert. Was du beschreibst, ist durchaus typisch. Warte ab, auch die verschwommenen

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