Der Zauber deiner Lippen
nehmen.
Doch er blieb ernst. „Solange du meine Patientin bist, bestimme ich, wann ich dich aus meiner ärztlichen Obhut entlassen kann. Du kannst entscheiden, ob du bei mir zu Hause als mein Gast sein oder im Krankenhaus als meine Patientin bleiben willst.“
Cybele senkte die Augen, um Rodrigos intensivem Blick zu entgehen. Aber sie wusste, sie hatte keine Wahl. Denn in ihrem Zustand musste sie unter ärztlicher Aufsicht bleiben. Und natürlich war der Mann, der sie operiert und später betreut hatte, der Arzt der Wahl. Zumal er einer der besten seines Fachs war.
Aber auch wenn sie schon ganz wiederhergestellt wäre, hätte sie sich ungern entlassen lassen. Denn wo sollte sie hingehen? Nach Hause, einem Zuhause, an das sie nur düstere Erinnerungen hatte? Außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, in ihrem Zustand mit jemand anderem als Rodrigo zusammen zu sein. Ganz sicher nicht mit ihrer Mutter und deren neuer Familie. Die waren ihr ebenso fremd wie irgendwelche flüchtigen Bekannten, die an ihr nicht sonderlich interessiert waren. Denn sonst hätte vor allem die Mutter sich nicht mit ein paar Telefonauskünften abspeisen lassen, nachdem der Schwiegersohn tot war und die Tochter den Flugzeugabsturz nur knapp überlebt hatte.
Langsam hob Cybele den Kopf und sah Rodrigo an, der sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte. Zögernd nickte sie. Sie musste nachgeben. Lächelnd beugte er sich zu ihr herunter. „Dann siehst du ein, dass du vorläufig unter meiner Aufsicht bleiben musst?“
Warum quälte er sie so? Sollte sie vor ihm kapitulieren, damit er seinen Triumph voll auskosten konnte? Darauf konnte er lange warten. Wieder nickte sie nur.
„Und wofür hast du dich entschieden?“, fragte er wieder. „Gast oder Patientin?“
Warum musste er das denn jetzt schon wissen? Sie hatte gehofft, noch ein paar Tage Zeit zu haben, um die richtige Entscheidung treffen zu können. Aber eigentlich wusste sie jetzt schon, was sie tun sollte. Hier im Krankenhaus als seine Patientin war sie sicher, sicherer vor ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten. Doch anstatt sich eindeutig auszudrücken, erwiderte sie leise: „Als wenn du das nicht schon längst wüsstest.“
Kurz leuchteten seine Augen auf, und er unterdrückte ein wissendes Lächeln. Sie konnte nur hoffen, dass er sich seiner zu sicher war und irgendetwas Unüberlegtes, Machomäßiges sagte, das sie abstieß und sie dazu veranlasste, das zu tun, was richtig war. Nämlich hier im Krankenhaus als seine Patientin zu bleiben. Aber leider lächelte er nur freundlich und sagte sanft: „Es ist mir eine Ehre, dich als meinen Gast in meinem Haus begrüßen zu können.“ Er machte eine leichte Verbeugung – und da war er wieder, dieser arrogante Gesichtsausdruck, der ihr die Entscheidung abgenommen hätte! „Gut, dass du nicht Patientin bleiben wolltest.“ Er grinste. „Allerdings hätte ich dich doch wieder umgestimmt.“
Sie holte empört Luft. „Das ist doch wohl …“
„Mit einem sehr einfachen Argument“, unterbrach er sie schnell. „Dieses Krankenhaus ist gleichzeitig eine Lehranstalt. Das bedeutet, dass die Patienten auch als Probanden für junge Ärzte und Medizinstudenten zur Verfügung stehen müssen. Und da du ein besonders interessanter Fall bist …“
„Hör auf!“ Er brauchte nichts weiter zu sagen. Sich von Ärzten und Studenten begaffen, untersuchen und befragen zu lassen war eine grauenhafte Vorstellung und hätte Cybele in Sekundenschnelle das Krankenhaus verlassen lassen, auch wenn sie keine Ahnung gehabt hätte, wohin. Denn als Studentin und als Ärztin im Praktikum – und plötzlich war diese Erinnerung wieder da! – wusste sie aus eigener Erfahrung, dass besagte Patienten dem Wissensdrang der angehenden Ärzte vollkommen ausgeliefert waren. „Du bekommst wohl immer das, was du willst.“
„Nein, nicht immer.“ Dabei sah er sie ernst, ja beinahe gequält an, sodass ihr kurz der Atem stockte. Ging es hier um sie ? War sie jemand, den er haben wollte, aber nicht bekommen konnte? Nein, das war unmöglich. Sie wusste einfach, dass das, was sie für ihn empfand, einseitig war und nicht von ihm erwidert wurde. Sonst hätte er sich bestimmt schon mit einer Geste oder einem Wort verraten. Aber er hatte sich immer absolut korrekt ihr gegenüber verhalten.
Rodrigos gequälter Gesichtsausdruck hatte wohl eher damit zu tun, dass er seinen besten Freund Mel nicht hatte retten können. Ja, das war es, was er nicht hatte
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