Der Zauber deiner Lippen
vermeintlich schwache Geschlecht besitzt die totale Macht.“ Dabei zuckte er beinahe hilflos mit den Schultern, was bei ihm besonders komisch, aber auch liebenswert aussah. Als er aufstand und das Geschirr in das Häuschen trug, lehnte Cybele sich entspannt zurück. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viel gelacht wie hier mit ihm in diesem Paradies.
In den letzten vier Wochen war er nur einmal mit seinem Privathubschrauber in die Klinik geflogen und hatte alles so arrangiert, dass er das Wesentliche von zu Hause aus regeln konnte und so wenig Zeit wie möglich mit seiner Arbeit verbrachte. Zwar hatte sie versucht, ihn davon abzuhalten. Sie sei bei Consuelo, Gustavo und deren Kindern bestens aufgehoben, hatte sie ihm versichert. Aber er hatte darauf bestanden, sich weiterhin um sie zu kümmern, und sie damit beruhigt, dass er seine Aufgaben ihretwegen nicht vernachlässige.
Wie sehr Cybele es genoss, Rodrigo um sich zu haben, von ihm verwöhnt zu werden. Wenn sie sich doch nur irgendwie erkenntlich zeigen könnte. Aber er hatte alles und brauchte nichts. Nur seine Seele schien verletzt zu sein. Und so hoffte sie, wenigstens in diesem Punkt etwas für ihn tun zu können und ihm durch ihre Gegenwart zu helfen. Es sah auch so aus, als habe sie Erfolg. Seine Laune besserte sich, und er blockte Cybele nicht mehr ab, wenn sie persönliche Fragen stellte. In diesen letzten Wochen waren sie sich sehr nahegekommen und hatten sich Dinge anvertraut, die Cybele für immer in sich verschlossen zu haben glaubte.
Als traue sie dem Frieden nicht, wartete sie darauf, dass Rodrigo etwas tun oder sagen würde, was sie enttäuschte oder traurig machte. Aber das geschah nicht. Stattdessen schien er ständig darüber nachzudenken, wie er ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen und sie erfreuen könnte. Er war genauso, wie seine Pflegemutter ihn beschrieben hatte: fürsorglich, rücksichtsvoll, witzig und dabei ganz Mann. Oft waren er und Cybele einer Meinung, und wenn sie nicht übereinstimmten, dann diskutierten sie über das Thema, respektierten die Anschauung des anderen und waren froh, einen neuen Gesichtspunkt kennengelernt zu haben.
Doch immer wieder musste sie darüber nachgrübeln, welches denn nun der echte Rodrigo war. Denn der Mann, den sie früher gekannt hatte – und allmählich kamen die Erinnerungen zurück –, war ungeduldig und überheblich gewesen und hatte sich Mel gegenüber arrogant und genervt benommen. Mit ihr hatte er kaum gesprochen und sie immer wieder abschätzig angesehen, so als sei sie seines Freundes, das heißt, seines Bruders nicht würdig.
Und jetzt war er plötzlich wie ausgewechselt? Wie war das nur möglich? Es gab nur eine Erklärung. Ihre Erinnerungen mussten falsch sein, und dies war der echte Rodrigo.
„Bist du bereit, dich wieder deiner Gefängniswärterin auszuliefern?“
Lachend ließ sie sich von ihm auf die Füße ziehen. Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, ihm unbedingt zeigen zu müssen, was er ihr bedeutete. Sie legte ihm die Arme um den Hals und sah ihm tief in die Augen. „Rodrigo …“
Ihre leise Stimme traf ihn mitten ins Herz. Und ihr Körper, den er in den Armen hielt und den er, ohne dass es ihm bewusst war, fester an sich presste, erregte ihn so sehr, dass er sofort hart wurde. Wildes Verlangen erfasste ihn, und er konnte an nichts anderes denken, als dass er sie nehmen musste, besitzen wollte, jetzt, in dieser Sekunde.
Doch er durfte sich dieser Sehnsucht nicht hingeben, auch wenn es ihn beinah um den Verstand brachte. Aber war das nicht eh schon geschehen? Einzig seinem eisernen Willen war es zu verdanken, dass er das körperliche Verlangen bisher erfolgreich unterdrückt und sich ganz auf Cybeles Genesung konzentriert hatte. Er hatte sie kennenlernen, hatte verstehen wollen, wie sie dachte, was sie empfand. Nach diesen vier Wochen musste er sich eingestehen, dass er sich noch nie so wohl mit einer Frau gefühlt hatte, dass sie das Beste war, was ihm hatte passieren können.
Doch immer wenn er nicht mit ihr zusammen war, wurden die Gespenster der Vergangenheit wieder lebendig. Dann spürte er wieder das Misstrauen und die Ablehnung, die er ihr damals entgegengebracht hatte. Er hatte sie verachten und hassen wollen – weil sie die einzige Frau war, die er jemals geliebt und begehrt hatte. Und die er nicht hatte haben können.
Das war jetzt anders. Nicht nur weil sie frei war, sondern weil er eine
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