Der Zauber deiner Lippen
ewig vergessen blieb. Sie kannte genug Amnesiefälle, bei denen das Verdrängen ins Unterbewusstsein hilfreich war. Soldaten, die aus einem blutigen Krieg wiedergekehrt waren, Kinder, die missbraucht, Frauen, die vergewaltigt worden waren … Wenn sie sich nicht an das Leben mit Mel erinnern wollte , dann war es vielleicht besser so. Doch das erklärte immer noch nicht, warum sie dann ein Kind mit ihm hatte haben und zweite Flitterwochen mit ihm hatte erleben wollen.
„Wie dem auch sei“, riss Rodrigo sie aus ihren trüben Gedanken, „auch wenn es schon eine ganze Menge Theorien darüber gibt, warum jemand eine psychogenetische Amnesie entwickelt, wie das Ganze funktioniert, weiß man immer noch nicht. Ich neige zu der Auffassung, dass ein biochemisches Ungleichgewicht im Hirnstoffwechsel dafür verantwortlich ist, nicht aber irgendwelche traumatischen unterdrückten Erlebnisse.“
„Deshalb bist du ja auch Neurochirurg und nicht Psychiater geworden.“
„Ja, ich möchte gern die Ursachen für solche Symptome herausfinden, das heißt, nicht nur, warum sie da sind, sondern auch, wodurch und wie sie entstehen.“
„Kein Wunder, dass du so ein fantastischer Wissenschaftler bist.“
Er sah sie kurz an, als sei er nicht sicher, ob sie es ernst meinte, dann wandte er sich schnell ab.
Irrte sie sich, oder war er tatsächlich rot geworden? War er verlegen? Schon manches Mal war ihr aufgefallen, dass er zwar von seinen Fähigkeiten überzeugt war, jedoch keineswegs ein überzogenes Selbstbewusstsein hatte. Und nun wurde er sogar rot, weil sie ihn bewunderte. Das war wirklich süß und machte ihn noch unwiderstehlicher.
Als sei ihm das Kompliment peinlich, kam er schnell wieder auf ihren Fall zurück. „Was dich betrifft, so bin ich sicher, dass du schon vor dem Unfall in einer Lebenssituation gesteckt hast, die du im Griff zu haben glaubtest. Was aber offensichtlich nicht stimmt, denn sonst wärst du jetzt in einer anderen Lage.“
„Was bedeutet das? Dass ich auch schon vor dem Flugzeugabsturz eine Kandidatin für eine psychogenetische Amnesie war?“
„Nein. Der unvorstellbare Stress, der durch den Absturz hervorgerufen wurde, und die vorübergehende Hirnverletzung hatten zur Folge, dass das Gleichgewicht gestört wurde, das dein Erinnerungsvermögen bisher intakt hielt, trotz des psychischen Drucks, dem du ausgesetzt warst.“
Ironisch lächelnd hob sie eine Augenbraue. „Du versuchst wirklich mit aller Macht und mithilfe von allen möglichen Theorien und medizinischem Fachvokabular eine neurologische Erklärung für meinen Zustand zu finden, um ihn nicht einfach als hoffnungslosen Fall abtun zu müssen, was?“
„Aber nein! Ganz bestimmt nicht. Du bist überhaupt kein …“ Er stutzte, als er sah, dass Cybele sich das Lachen nicht länger verkneifen konnte. „Du machst dich über mich lustig …“ Ungläubig sah er sie an.
„Ja“, sagte sie fröhlich, „und zwar schon eine ganze Zeit. Aber du warst so sehr damit beschäftigt, mir meinen Fall zu erklären, dass du es nicht bemerkt hast.“
Jetzt musste auch er lächeln. „Soso. Sieht ganz so aus, als hätte ich die Fortschritte, die du machst, unterschätzt.“
„Das predige ich dir doch schon seit …“
„Seit geraumer Zeit. Begriffen. Aber da ich nun weiß, dass dein Gehirn wieder wunderbar funktioniert und es dir auch sonst gut zu gehen scheint, kann ich ja endlich aufhören, dich mit Samthandschuhen anzufassen.“
Sie lachte und wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß von der Stirn. „Endlich. Ich dachte schon, du hörst nie auf, mich wie eine Schwerkranke zu behandeln.“ Was für ein wunderbarer Mann, dachte sie. Nicht nur, dass er ein brillanter Wissenschaftler war, er besaß auch eine gute Portion Humor. So einen Menschen wie ihn gab es kein zweites Mal. Das wusste sie mit absoluter Klarheit. Denn plötzlich lag ihr Leben vor Mel wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihr.
„Freu dich nicht zu früh. Noch vor wenigen Minuten hätte ich mir alles von dir gefallen lassen. Doch damit ist es jetzt vorbei. Auch mit meiner übertriebenen Rücksichtnahme. Im Gegenteil, du verdienst eine ordentliche Strafe dafür, dass du dich über mich lustig gemacht hast. Wo ich mir doch so viel Mühe gegeben habe, allwissend zu erscheinen.“
In gespielter Verzweiflung sah sie ihn an. „Hilfe! Was wirst du denn mit mir tun? Schickst du mich auf mein Zimmer?“
„Ich werde dich zwingen, das zu essen, was ich koche. Und das ist erst der Anfang.
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