Der Zauber deiner Lippen
vollkommen andere Meinung von ihr hatte. Je besser er sie kennenlernte, desto klarer wurde ihm, dass Mels Anschuldigungen unberechtigt waren, dass ihre sogenannte Sprunghaftigkeit und ihre Untreue der kranken Psyche seines Pflegebruders entsprungen waren. Denn Cybele hatte Mel geliebt, davon war Rodrigo jetzt überzeugt. Da Mel seit dem Autounfall sein Schicksal beklagt hatte, hatte er auch alles andere schwarzsehen wollen, und Rodrigo hatte sich davon anstecken lassen, zumindest wenn es um Cybele ging.
Er hatte ihm geglaubt, wenn Mel sich beschwerte, dass sie ständig teure Geschenke verlange, und den Bruder bat, ihm Geld für seine unersättliche Frau zu leihen. Doch jetzt wurde ihm klar, dass das Mels Methode war, Cybele an sich zu binden, vielleicht auch, ihr seine Liebe zu zeigen. Als letzte Konsequenz dann hatte er sie überredet, sich auf eine In-vitro-Befruchtung einzulassen. Das, so hatte Mel gehofft, würde sie für immer an ihn binden.
Dass Cybele keine Erinnerung mehr an die Zeit mit Mel hatte, war ganz sicher eine Schutzfunktion ihrer Psyche. Sie sollte davor bewahrt werden, erneut die traumatische und verzweifelte Liebe zu durchleben, die sie für ihren Mann empfunden hatte. Dass sie jetzt ihm, Rodrigo, so vertrauensvoll und warmherzig entgegenkam, konnte nur zwei Ursachen haben. Entweder hing sie an ihm, weil er alles war, was ihr geblieben war. Oder sie hatte vergessen, dass sie Mel geliebt und den Bruder gehasst hatte, der sie aus tiefstem Herzensgrund zu verachten schien. Und wenn die Erinnerung wiederkam, würde sie sich dann wieder von ihm abwenden?
Diese Vorstellung war Rodrigo unerträglich. Vielleicht sollte er seinem Verlangen nachgeben, sollte sie hier und sofort lieben und auf diese Weise fest an sich binden? In ihren Augen war deutlich zu lesen, dass sie ihn wollte, dass sie ihn begehrte und sich genauso nach ihm sehnte wie er sich nach ihr.
Aber war das wirklich der Fall? Vielleicht wollte sie nur spüren, dass sie nach dem schrecklichen Unfall, der ihren Mann das Leben gekostet hatte, wieder ganz Frau war. Und da war er, Rodrigo, eben gerade verfügbar. Vielleicht wollte sie ihm auch ihre Dankbarkeit beweisen. Wie auch immer, er war davon überzeugt, dass ihr nicht recht bewusst war, was sie tat, und dass sie sich über die Gründe nicht im Klaren war.
Und genau deshalb durfte er seinem Verlangen nicht nachgeben. Dabei dachte er nicht an Mel. Mel war tot, und seine Ehe mit Cybele war nicht gerade glücklich gewesen. Aber durfte er, Rodrigo, sie, die noch keine Entscheidungen für ihr weiteres Leben fällen konnte, fest an sich binden und damit ihr Vertrauen missbrauchen? Momentan hatte sie sich ihm voll ausgeliefert und vertraute ihm rückhaltlos. Und bot ihm ihren Körper an …
Wie sollte er da widerstehen? Gerade weil er spürte, wie sehr sie ihn begehrte, wurde er fast verrückt vor Verlangen. Aber es durfte nicht sein, auch wenn ihr Körper noch so verführerisch war und sie die weichen rosa Lippen hingebungsvoll öffnete. Schweren Herzens ließ er sie los. „Ich muss jetzt wieder was tun.“
Fassungslos sah sie ihn an, dann senkte sie den Blick und biss sich kurz auf die Unterlippe. „Okay.“
Feigling. Was für eine billige Ausrede, nur um ein paar Stunden nicht in ihrer verführerischen Nähe zu sein. Aber er musste jede Möglichkeit nutzen, ihr aus dem Weg zu gehen, so lange, bis sie endgültig geheilt war und Entscheidungen im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte treffen konnte. Zumindest durfte er nicht mehr so oft mit ihr allein sein. „Übrigens, bevor ich es vergesse, ich habe meine Familie eingeladen, uns zu besuchen.“
Was war geschehen? Was hatte sich verändert? Gerade noch hatte Cybele in Rodrigos Armen gelegen und war sehr sicher gewesen, dass er das Gleiche fühlte sie wie. Sie hatte zu spüren gemeint, dass er sie begehrte, und hatte geglaubt, dass sie sich für immer in seinen Armen geborgen fühlen konnte.
Aber offenbar hatte sie sich all das nur eingebildet. Er hatte sie zurückgestoßen, und die Kälte und Unnahbarkeit hatten wieder von ihm Besitz ergriffen. Obgleich er gemerkt haben musste, dass sie sich nach ihm sehnte, dass sie ihn begehrte und sich ihm hingeben wollte, hatte er sie stehen lassen und sich von ihr abgewandt.
Er hatte seine Familie eingeladen. Das war deutlich. Offensichtlich wollte er damit sicherstellen, dass er nicht mehr mit ihr allein sein musste, damit sie ihn nicht wieder mit Wünschen belästigte, die ihn in eine
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