Der Zauber einer Winternacht
Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, aber die feinen Linien machten ihn nur noch attraktiver. Gillian wusste, dass viele Frauen Schlange stehen würden, um mit ihm ins Bett zu gehen. Und es lohnte sich: Er war ein ebenso feuriger wie zärtlicher Liebhaber.
Der Kuss draußen im Schnee, geboren aus tiefster Erleichterung darüber, dass sie dem Tod knapp entronnen waren, hatte in ihr eine Sehnsucht geweckt, von der sie geglaubt hatte, sie sei ein für alle Mal gestorben. Gillian befürchtete, dass ihr Verlangen eine Leidenschaft entfachen könnte, die alles zerstören würde, was ihr im Weg stand.
„Es wird Zeit für mich. Eigentlich müsste ich längst im Bett liegen“, seufzte ihr Vater und gab damit erneut zu erkennen, dass er alt wurde.
Gillian warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Es war gerade mal acht. John stand mühsam von seinem Stuhl auf, und sie meinte, seine Knochen ächzen zu hören. Überrascht sah sie, dass er einen ungewohnten Weg einschlug. „Letzten Monat bin ich in den Anbau im Erdgeschoss umgezogen“, erklärte er. „Das Treppensteigen fällt mir schwer. Ihr beiden schlaft oben. Bryce kann mein altes Schlafzimmer benutzen, und du schläfst in deinem ehemaligen Kinderzimmer.“
Die beiden Räume grenzten unmittelbar aneinander an. Gillian hätte für die Dauer ihres Aufenthalts hier etwas mehr Abstand zu Bryce vorgezogen. Kurz kam ihr erneut der Verdacht, ihr Vater hätte das Ganze nur arrangiert, um ihnen Gelegenheit zu geben, sich auszusöhnen, aber dann wies sie diesen Gedanken als absurd von sich.
Wenn er allerdings tatsächlich sein Schlafzimmer ins Erdgeschoss verlegt hatte, weil ihm die Treppen zu schaffen machten, dann hatten Stella und Rose mit ihrer Einschätzung seines Gesundheitszustandes doch nicht ganz unrecht.
Ihr Vater strauchelte, und schon wieder fühlte Gillian sich beschämt, weil sie seine Motive in Zweifel zog. Sie sprang auf und eilte an seine Seite. „Gib mir deinen Arm“, sagte sie.
Er nahm ihre Hilfe erstaunlich bereitwillig an. „Habe ich schon erwähnt, wie froh ich bin, dass ihr hier seid?“, fragte er.
Gillian nickte.
„Ich bin auch froh“, sagte sie – und stellte überrascht fest, dass sie das ernst meinte. „Ich wusste gar nicht, wie sehr ich mein Zuhause vermisst habe.“
John lächelte. Sein Ton war eher bittend denn tadelnd, als er anmerkte: „Du würdest hier noch viel mehr von dem finden, was du vermisst hast – wenn du dich nur nicht davor verschließen würdest.“
Auf dem Weg durch den kurzen Flur zum Anbau überfiel Gillian wieder die Sorge. Wenn ihrem Vater nun etwas passierte, so ganz allein hier draußen?
Ich würde hier glücklicher sterben, als wenn ich in einem Altenheim eingesperrt wäre …
Er hatte aus tiefster Überzeugung gesprochen. Gillian fragte sich, ob man einem geliebten Menschen ein größeres Geschenk machen konnte als das, ihn sein Leben so leben zu lassen, wie er es wollte. Als sie das neue Zimmer ihres Vaters betrat, war sie angenehm überrascht. Es war genauso nett und gemütlich eingerichtet wie das Haupthaus. Er hatte sich sogar ein neues Bett gekauft, das sich auf Knopfdruck verstellen ließ. Das erleichterte ihm das Hinlegen und das Aufstehen.
Ein alter Freund wartete auf dem Bett. Der Irish Setter war um die Schnauze grau geworden. Müde hob er den Kopf und wedelte schwach mit dem Schwanz, um Gillian zu begrüßen.
„Padre!“ Sie ließ sich auf das Bett sinken und schlang ihre Arme um das Tier. Seit fast zwanzig Jahren gehörte es zur Familie.
Der alte Hund bellte einmal kurz, stand aber nicht auf. Er leckte Gillian die Hand zum Dank für ihre Zuwendung.
„Ich hab ihn schon als Welpen gekannt“, stieß sie hervor. Kaum zu glauben, dass es den alten Padre immer noch gab.
„Inzwischen ist er fast blind“, erzählte John. „Und er hat kaum noch Zähne. Genau genommen ist er nutzlos geworden und wohl kaum das teure Dosenfutter wert, das ich ihm kaufe. Ich sollte seinem Leiden eigentlich ein Ende setzen, aber das bringe ich einfach nicht übers Herz.“
Seine Stimme zitterte, als er hinzufügte: „Ich wünschte, jemand würde sich genauso um mich kümmern, wenn ich zu nichts mehr nutze bin.“
Tränen schossen Gillian in die Augen. „Sag so was nicht“, tadelte sie ihn. „Und mach dir keine Sorgen wegen Padre. Es ist keine Last, sich um jemanden zu kümmern, den man liebt.“
Die Worte, mit denen Bryce sich am Telefon im Taxi von Robbie verabschiedet hatte, hallten in ihrem Kopf
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