Der Zauber einer Winternacht
zu hinterfragen.
Erst als jeder eine zweite Portion verdrückt hatte, brachte Bryce das Gespräch auf den eigentlichen Grund ihres Besuchs.
„Was immer du mit uns besprechen wolltest, John: Jetzt ist wahrscheinlich der beste Zeitpunkt dafür.“
John nickte. „Ich nehme an, es ist kein Geheimnis: Stella und Rose möchten, dass ich die Ranch verkaufe und in die Stadt ziehe. Entweder in betreutes Wohnen oder in ein Seniorenheim – damit sie endlich ihr Erbe antreten können.“
Gillian legte ihre Gabel aus der Hand und wollte widersprechen, aber John ließ sie nicht zu Wort kommen.
„Ein beträchtliches Erbe, wenn es stimmt, was man so über den Verkaufswert dieses Grundstücks hört. Du bist Immobilienmaklerin, Gillian. Deshalb möchte ich dich bitten, den genauen Wert zu ermitteln.“
Gillian nickte wortlos.
„Deine Schwestern und ich haben uns schon über mein ‚merkwürdiges Gebaren‘, wie sie es nennen, unterhalten, und ihnen hat gar nicht gefallen, was ich dazu zu sagen hatte. Sie sind der Meinung, ich sei ein verwirrter alter Tattergreis, den sie nach Belieben manipulieren können. Es ärgert sie gewaltig, dass ich euch beide zu meinen Vormündern gemacht habe. Das aber zeigt mir, dass meine Zweifel hinsichtlich ihrer Beweggründe nicht völlig aus der Luft gegriffen sind.“
„Der Fairness halber muss ich sagen: Ich kann verstehen, dass sie in einem Außenstehenden wie mir eine Bedrohung ihrer Interessen sehen“, warf Bryce ein. „Ich habe es Gillian schon gesagt: Ich würde liebend gern meinen Namen aus allen offiziellen Dokumenten streichen und es dir und deinen Töchtern überlassen, eure Angelegenheiten unter euch und ohne Einmischung von außen zu regeln.“
Gillian traute ihren Ohren kaum: Bryce ergriff Partei für die beiden Menschen, von denen sie sicher wusste, dass er sie zutiefst verachtete.
„Du bist kein Außenstehender!“, herrschte ihr Vater ihn an. „Weißt du nicht, dass ich dich wie einen Sohn betrachte?“
Für Gillian war das nichts Neues, aber sosehr sie auch die enge Beziehung der beiden Männer zueinander einst geschätzt hatte, so war sie ihr jetzt nach der Scheidung ein Dorn im Auge. Traute ihr Vater ihr etwa nicht zu, sich allein um seine Angelegenheiten zu kümmern, ohne dass Bryce ihr auf die Finger schaute? Sah er gar nicht, in welch eine unangenehme Situation er sie brachte, indem er Schwester gegen Schwester und Exfrau gegen Exmann ausspielte?
Bryce war sichtlich gerührt von Johns Offenbarung, aber da beide Männer nicht zu Gefühlsduseleien neigten, räusperte John sich einfach nur und sprach weiter.
„Ich möchte, dass ihr beide euch viel Zeit nehmt, meine Bücher gründlich durchzugehen, und dass ihr euch selbst ein Bild von meiner körperlichen und geistigen Verfassung macht, ohne Einfluss von anderen. Wenn ihr das getan habt, möchte ich euch einen Vorschlag machen.“
Gillian wappnete sich. Ein Seitenblick auf Bryce zeigte ihr, dass ihm vermutlich derselbe Satz aus einem alten Kinofilm durch den Kopf ging.
Ich werde dir ein Angebot machen, dass du nicht ableh nen kannst …
8. KAPITEL
Es überraschte Gillian nicht, dass ihr Vater sich nicht näher zu seinem „Vorschlag“ äußern wollte. Er war ein gewiefter Pferdehändler und beherrschte die Kunst des Hinhaltens aus dem Effeff. John Baron ließ sich nicht drängen. Er weigerte sich rundheraus, seine Worte zu erläutern, und sagte nur, sie könnten das Gespräch gern fortsetzen, wenn Gillian und Bryce sich alle Informationen beschafft hätten, die sie brauchten. Dann ließ er sie allein, damit sie sich nach eigenem Gutdünken mit den Verhältnissen auf der Ranch vertraut machten.
Gillian konnte mit Worten sicherer umgehen als mit Zahlen, aber sie war in der Lage, eine Bilanz zu lesen und zu begreifen, was hinter den Zahlen stand. Nach dem, was Stella über den aktuellen Umgang ihres Vaters mit Geld gesagt hatte, rechnete sie fast damit, dass die Ranch kurz vor dem Bankrott stand. Eine gründliche Durchsicht der Bücher ergab jedoch nichts dergleichen.
John Baron war schon immer großzügig gewesen. Im letzten Jahr hatte er nahezu jeder Wohltätigkeitsorganisation, die man sich vorstellen konnte, größere Summen gespendet. Außerdem hatte er einen soliden Pensionsfonds für Dustin und Bette eingerichtet, auf den Namen seiner Frau eine Stiftung gegründet, die Stipendien an Landwirtschaftsstudenten vergab, und eBay für sich entdeckt: Er gab ein kleines Vermögen für antike Münzen und
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