Der Zauber Von Avalon 02 - Im Schatten der Lichtertore
geschwärzten Wände endlich abgelöst wurden durch graue, gelbe und bräunliche Wellenlinien und schließlich durch das Grün junger Farne, wurde ihm das Herz leichter. Obwohl er das Gefühl dieses alten Bluts an seinen Fingern ebenso wenig vergessen konnte wie den rußigen Rauchgeruch, wusste er, dass im Gedächtnis von Avalon eine Zeit der Erneuerung – die Reifezeit – begonnen hatte.
Der Tunnel schien jetzt nach rechts zu führen, nicht plötzlich, aber allmählich und trotz eines gelegentlichen kurzen Abstechers nach links. Oder bildete sich Tamwyn das nur ein? Er hatte das Gefühl, jeglichen Ortssinn zu verlieren.
Wo in diesem weiten Raum des Stamms bin ich eigentlich?
, fragte er sich. Hier zu gehen war ganz anders als seine vielen Wanderungen über die Oberfläche der Wurzelländer.Dort konnte er, auch wenn er sich verirrt hatte, Erkennungszeichen finden, die ihm halfen, einen Weg zu planen. Da war immer eine Kammlinie, ein Berggipfel oder ein einzelner Baum in der Ferne. Und nachts konnte er sich natürlich an den Sternen orientieren.
Doch hier, tief im Baum, gab es keine solchen Hilfsmittel. Wo er wirklich war, konnte er nur raten. Im Moment wusste er lediglich, dass er weder aufwärts noch abwärts ging. Doch selbst das war nicht ganz gewiss: Vielleicht verlief der Tunnel in Wirklichkeit schräg, aber so unmerklich, dass er es einfach nicht feststellen konnte.
Wenn ich nur eine Art Kompass hätte
, überlegte er im Weitergehen. Keinen konventionellen, sondern einen, der im großen Baum funktionierte. Der ihm seinen Standpunkt zeigte, egal wo er sich befand. Der ihm die Position senkrecht und waagrecht angab!
Das
wäre etwas Nützliches gewesen. Aber natürlich war es nicht mehr als ein Einfall. Und noch dazu ein bizarrer.
Jedenfalls konnte er im Moment nur raten, wo innerhalb des Baumstamms er sich wirklich befand. Und ob vor Jahren sein Vater durch denselben Tunnel gewandert war – auf der Suche nach demselben Ziel.
Gerade da nahm sein feines Gehör etwas aus der Ferne auf, ein unbestimmtes flüsterndes Geräusch. Es nahm ab und wieder zu und rauschte dabei wie Windstöße. Doch es schien mehr als Wind zu sein, es klang tiefer und kräftiger.
Im nächsten Abschnitt war die Wand glatt, mit schimmerndem Silber gemustert. Das erinnerte Tamwyn an die Sterne. Er fragte sich, ob dieser Ring den Augenblick kennzeichnete,an dem vor Jahrhunderten Merlin die Sterne des Zauberstabs wieder angezündet hatte, nachdem sie sich zum ersten Mal verdunkelt hatten. Und zugleich überlegte er, ob er oder ein anderer je hoffen konnte, sie ohne Merlins Hilfe wieder zum Leuchten zu bringen.
Inzwischen wurde das flüsternde Geräusch lauter. Jetzt klang es mehr wie ein rauschender Fluss, der auf seinem Weg zum Meer schäumt und drängt. Tamwyn, von Henni gefolgt, ging schneller, um den Ursprung dieser Laute zu finden.
Plötzlich blieben sie stehen.
»Uuhuu«, sagte Henni. »Ein Gemälde.«
»Eher tausend Gemälde«, verbesserte Tamwyn. »Und alle wunderschön.«
Tatsächlich war hier der ganze Tunnel einschließlich Decke und Fußboden in strahlenden Farben und mit erstaunlichen Einzelheiten bemalt. Das riesige Wandgemälde erstreckte sich Hunderte von Schritten weit! Auf der silbrigen Oberfläche waren komplizierte Szenen aus jeder Jahreszeit in jedem Wurzelland dargestellt, dazu kamen andere, die Tamwyn nicht erkennen konnte. Es gab Bäume, die umgekehrt wuchsen, Berge, die auf der Luft zu schweben schienen, Wolken mit violetten Städten, honigähnliche Flüsse und einen fremdartigen gelben Stern, der über dem Horizont aufstieg – Orte jenseits aller Beschreibung, Welten ohne Zahl.
Eine Szene bestand hauptsächlich aus Finsternis. Eine große Stadt ragte im Hintergrund, wo ein paar schwache Lichter noch leuchteten, während ringsum Nacht herrschte.Dunkle Gestalten kauerten eindeutig ängstlich in den Schatten. Könnte das, fragte sich Tamwyn, Schattenwurzel gewesen sein? Vielleicht die versunkene Stadt des Lichts, die er von Barden kannte?
Die meisten gemalten Darstellungen waren mit Geschöpfen übervölkert. Manche davon kannte Tamwyn gut, zum Beispiel Nebel- und Moosfeen, Gobsken, Zwerge, Elfen, Adlervolk, Menschen und Leuchtfliegen. Selbst das Einhorn mit den saphirblauen Augen war gemalt worden, es beugte den anmutigen Hals, um aus einem sternenbeleuchteten Teich zu trinken.
Und dann gab es einige Geschöpfe, die Tamwyn nie zuvor gesehen hatte – darunter eine besonders auffallende Erscheinung, die
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