Der Zaubercode
zeigte keine Spur von Schmerz oder Angst. Der blutige Stumpen ihres Arms blutete nicht mehr; stattdessen wuchs die Hand langsam wieder nach, während Gala dabei zuschaute. Jeder Knochen, jeder Muskel und jede Sehne verlängerte und verdickte sich langsam. Bald erschienen Finger und die Hand war wieder wie zuvor, schlank und weiblich — und sehr lebendig.
Als Gala wieder zurück zur Menge blickte, sah sie, wie alle Zuschauer mit einem eigenartig glückseligen Ausdruck auf ihren Gesichtern knieten. Sie hatten zwar Blut auf ihrer Kleidung, aber niemand schien mehr zu bluten oder Schmerzen zu verspüren. Auch das hatte sie gemacht, verstand Gala erleichtert. Sie hatte nicht nur den Schmerz des Mädchens entfernt, sondern auch den der anderen in ihrer Nähe, hatte den Schaden rückgängig gemacht, der ungewollt von ihr angerichtet worden war.
In einiger Entfernung konnte sie sehen, wie sich Esther und Maya dem Rand der Menge annäherten, aber Gala war noch nicht fertig. Der Wächter und der Aufseher standen neben dem Mädchen und knieten in der gleichen Haltung wie der Rest der Menge, blickten Gala verzückt an. Sie ging zu ihnen und wusste, was sie tun musste.
Sie begann bei dem Aufseher und legte ihre Hände auf seine Schläfen. Sie musste verstehen, warum er so schreckliche Sachen gemacht hatte. »Wie konntest du nur?«, dachte sie und ließ die Frage in seinem Kopf widerhallen, immer und immer wieder, während sie sich in etwas verlor, was sich wie eine Abfolge von Momentaufnahmen anfühlte.
Er war ein kleines Kind reicher Eltern — ein Kind, welches keinerlei Ähnlichkeiten zu seinem Vater aufwies, ein Kind, das sich täglich wünschte, in eine andere Familie hineingeboren worden zu sein. Das Kind erlebte erneut die vielen Grausamkeiten, unter denen es gelitten hatte, die endlosen Schläge und verachtenden Worte. Die Zeit verging und das Kind war ein junger Mann, der sich mit jedem Tag mehr wie sein Vater verhielt — ein junger Mann, der nach anderen schlagen musste, um mit seinem eigenen inneren Schmerz umgehen zu können. Als der junge Mann älter wurde, stellte er fest, machthungrig geworden zu sein, jemand, der andere kontrollieren musste, um zu verhindern, dass ihm jemals wieder wehgetan wurde.
Jetzt verstand Gala. Der grausame Mann war auf seine Weise genauso verletzt wie das unglückliche Mädchen, dem er Schaden zufügen wollte. Das warme, teilhabende Gefühl überkam Gala erneut und sie streckte sich nach dem gebrochenen Mann aus und versuchte ihn zu heilen, genauso wie sie das mit der Hand des Mädchens getan hatte. Der Kopf wehrte sich und Gala wurde klar, sie würde den Mann fundamental verändern, wenn sie das machte. Er würde eine andere Persönlichkeit bekommen. Tief in sich wusste sie, vielleicht nicht das Recht zu haben, es zu tun, aber ihr Instinkt zu heilen war zu stark. Sie musste das machen, damit er in Zukunft niemanden mehr verletzen würde. Sie sammelte ihre Kraft, drückte sich tiefer in den Kopf des Aufsehers und fühlte, wie er sie endlich einließ.
»Gala! Gala, hörst du mich?« Mayas Stimme durchdrang den Nebel, der sie umschloss und holte Gala aus ihrem unbewussten Zustand.
Blinzelnd blickte sie auf Maya und Esther und bemerkte erst jetzt die riesige Erschöpfung, die ihren Körper überkam.
»Komm«, sagte Esther und griff nach Gala. Sie sah verängstigt aus und Gala ließ sich von ihr wegführen. Sie war zu schwach, um Widerstand zu leisten, als die zwei alten Frauen sie vom Platz begleiteten. Sie konnte sehen, wie um sie herum die Zuschauer langsam aus ihrem glückseligen Zustand erwachten und sich verwirrt umblickten. Maya schlang schnell wieder das Tuch um Galas Kopf und bedeckte sie mit dem dicken, kratzigen Material. Als sie im Gasthaus ankamen brach Gala auf ihrem Bett zusammen und schlief, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.
32. Kapitel: Blaise
Blaise untersuchte gerade seinen letzten Zauberspruch, als er das Klopfen an der Tür hörte. Sein Herz hämmerte und ein Wutschauer lief ihm über den Rücken. War das der Rat, der erste Schritte einleitete?
Er eilte zum Lagerraum und schnappte sich ein Bündel Karten, die er nach dem Tod seines Bruders genau für einen solchen Anlass geschrieben hatte. Sie waren eine Mischung aus Angriffs- und Verteidigungszaubern, jeder genau auf die Stärken und Schwächen eines bestimmten Ratsmitglieds abgestimmt.
Unterdessen klopfte es weiter.
Blaise dachte angestrengt nach und entschied sich dann für einen allgemeinen
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