Der Zauberhut
spüren.
Aber es geschah etwas ganz anderes. Er fühlte sich plötzlich seltsam leicht, erahnte große Macht und umfassendes Wissen. Es war keine substantielle, greifbare Präsenz, die ihm unmittelbar zur Verfügung stand. Sie lag ihm vielmehr auf der metaphorischen Zungenspitze, verbarg sich vor neugierigen Blicken.
Sonderbare Erinnerungsfragmente huschten an seinem inneren Auge vorbei, und es handelte sich nicht um Reminiszenzen, die aus seinem eigenen, nicht besonders leistungsfähigen Gedächtnis stammten. Er tastete vorsichtig danach, wie jemand, der einen hohlen Zahn erforscht, und kurz darauf sah er…
… zweihundert verstorbene Erzkanzler. Sie standen dicht hintereinander, bildeten eine lange Reihe, die in eine graue, ferne Vergangenheit reichte. Weise, kluge Männer. Trübe Augen, die ihn aufmerksam beobachteten.
Deshalb geht von dem Hut solche Kälte aus, dachte Rincewind. Die Wärme der Gegenwart wird vom Jenseits angesaugt.
Vertraute Furcht klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Als der Hut sprach, bewegten sich zweihundert blasse Lippenpaare. Wer bist du?
Rincewind, dachte Rincewind. Und in einem entlegenen Winkel seines Selbst fügte er verstohlen hinzu: Hilfe!
Er spürte, wie seine Knie unter dem Gewicht der Jahrhunderte nachgaben.
Wie fühlt man sich im Tod? fragte er zaghaft.
Der Tod ist nur ein langer Schlaf, antworteten die mentalen Leichen der Magier.
Ja, aber was empfindet man dabei? überlegte Rincewind.
Du bekommst eine gute Chance, das selbst herauszufinden, wenn die Kanus eintreffen, Rincewind.
Er gab einen entsetzten Schrei von sich und riß sich den Hut vom Kopf. Das echte Leben mit seiner Vielfalt von Geräuschen kehrte zurück, aber da jemand dicht neben ihm auf einen Gong hämmerte, wartete die Realität mit keiner nennenswerten Verbesserung auf. Inzwischen waren die Kanus deutlich zu sehen: Eine gespenstische Stille umhüllte sie, während sie durchs Wasser glitten und sich rasch dem Schiff näherten. Schwarzgekleidete Gestalten holten immer wieder mit langen Paddeln aus, und man rechnete unwillkürlich damit, daß sie grölten und laute Kampfschreie ausstießen. Es wäre angemessener gewesen, obwohl sich an der Situation natürlich nichts geändert hätte. Das Schweigen der Männer deutete auf unheilvolle Zielstrebigkeit hin.
»Bei den Göttern, das war schrecklich«, sagte Rincewind und deutete auf den Hut. Er beobachtete die klatschianischen Piraten und fügte hinzu: »Vom Grauen ins Entsetzen. Ich meine…«
Matrosen mit Entermessern eilten übers Deck. Conina zupfte an Rincewinds Ärmel.
»Bestimmt versuchen die Piraten, uns lebend gefangenzunehmen«, sagte sie.
»Oh«, machte Rincewind. »Das ist mir recht.«
Dann fiel ihm etwas anderes über klatschianische Sklavenjäger ein, und er schluckte krampfhaft.
»Vermutlich, äh, haben sie es in erster Linie auf dich abgesehen«, brachte er hervor. »Ich kenne Gerüchte darüber, was sie mit jungen Frauen anstellen…«
»Sollte ich darüber Bescheid wissen?« fragte Conina. Rincewind mußte erschrocken feststellen, daß sie noch immer unbewaffnet war.
»Man wird dich in ein Serail werfen!«
Conina zuckte mit den Schultern. »Es gibt Schlimmeres.«
»Aber das Ding hat viele stählerne Spitzen, und wenn man die Tür schließt…« Rincewind brach ab. Die Distanz zu den Kanus schrumpfte weiter, und inzwischen konnte man die grimmigen Mienen der Klatschianer erkennen.
»Du meinst eine Eiserne Jungfrau. Weißt du denn nicht, was ein Serail ist?«
»Äh…«
Conina erzählte es ihm. Rincewind errötete.
»Wie dem auch sei«, fuhr die junge Frau fort, »zuerst müssen sie mich gefangennehmen, und ich bin nicht unbedingt bereit, mich einfach so zu fügen. Du solltest dir in erster Linie Sorgen um dich selbst machen.«
In dieser Beziehung verfügte Rincewind über erhebliche Erfahrungen. Trotzdem entstanden Verwirrungsfalten in seiner Stirn.
»Um mich selbst? Warum?«
»Du bist die zweite Person an Bord, die ein Kleid trägt.«
»Es ist kein Kleid, sondern ein Umhang«, erwiderte Rincewind würdevoll.
»Hoffentlich bemerken die Sklavenjäger den Unterschied.«
Eine Hand so groß und breit und dick wie ein Bananenbündel schloß sich um Rincewinds Schulter, drehte ihn herum. Ringe glänzten an fleischigen Fingern, und darüber, ein ganzes Stück darüber, grinste das haarige Gesicht des Kapitäns. Er stammte aus den mittwärtigen Regionen, und zu seinem Stammbaum schienen einige besonders große und kräftig
Weitere Kostenlose Bücher