Der Zauberspiegel
Freie. Sie sah hinab, starrte auf die Menschen und ihre Behausungen. Doch egal, wohin sie blickte, überall herrschte dasselbe Bild: Furcht, Entsetzen und Verzweiflung standen den Menschen ins Gesicht geschrieben. Angst vor dem nächsten Tag, Angst vor dem Nachbarn, ja sogar vor dem Vater, der Mutter, dem Bruder, der Schwester und den Freunden, die Spione sein konnten. Furcht vor den Soldaten. Furcht vor Kloob.
Es waren erstarrte Leben, Existenzen erfüllt von Vorsicht und Unterwürfigkeit.
Schließlich erreichte Juliane eine Burg, Kloobs Burg. Grauen erfasste sie und die qualvollen Todesschreie der Gefangenen hallten in ihren Ohren. Juliane erkannte, dass Angst und Schrecken aus dieser Burg kamen von einem Wesen, das so schwarz und böse war, dass es nichts im ganzen Universum gab, das seine schwarze Seele auch nur für den winzigsten Augenblick erhellen konnte.
Sie fuhr hoch und mit dem Erwachen kam die Erkenntnis. Furcht und Entsetzen dominierten das Land wie eine gefährliche Krankheit, die nur durch den Tod Kloobs geheilt werden konnte. Schlagartig begriff sie, worin ihre Aufgabe bestand: Sie sollte Kloob töten.
Juliane schob den Gedanken beiseite. Das konnte unmöglich ihre Bestimmung sein. Was war mit den Todesreitern? Sie stellten auch ohne Anführer eine Gefahr dar. Sie stöhnte und setzte sich auf.
Im dämmrigen Licht des Raumes erkannte sie Elyna, die auf einem Stuhl an ihrem Bett saß. »Wo ist Kalira?«
»Sie schläft«, entgegnete die Frau. »Wie geht es dir?«
»Besser, sehr viel besser, danke.«
Königin Elyna legte die Hand auf ihre Stirn. Dann nickte sie zufrieden. »Du hast kein Fieber mehr.«
»Danke, dass ihr euch um mich gekümmert habt.«
Elyna lächelte. »Das haben wir gern getan«, gab sie zur Antwort. »Torus war hier und hat sich nach dir erkundigt.«
»Torus?« Juliane blickte fragend hoch. Den Namen hatte sie noch nie gehört.
»Er und Trian haben dich hergebracht.«
Siedend heiß fiel ihr ein, was sie die ganze Zeit versäumt hatte zu fragen. »Der Knecht, mit dem ich vom Bauernhof floh, konnte er den Schwarzen entkommen?«
Elyna strich ihr beruhigend über die Hände. »Sag, wie hieß er?«
»Ranon.«
Die Frau strahlte über das ganze Gesicht. Juliane überrollte Erleichterung. »Ranon? Mach dir keine Sorgen. Keiner unserer Spitzel ist so geschickt wie er. Ranon wird es gelingen.«
Gegen ihren Willen musste Juliane grinsen. »Ein Spitzel also? Ich wusste doch, dass mit ihm etwas nicht stimmt.« Erleichterung durchströmte sie. »Vielen Dank für alles.«
Elyna lächelte und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
Kalira schob den Vorhang beiseite. »Wie fühlst du dich?«
»Sehr gut.« Juliane schlug die Bettdecke zurück und schwang ihre Beine aus dem Bett. »Ich würde gern ein wenig an die frische Luft gehen.«
Kalira nickte. »Aber du musst dir etwas anziehen. Warte einen Augenblick, ich werde dir einen Mantel holen. Dein alter taugte nur noch zum Verbrennen.«
Als sie das erste Mal seit Wochen auf ihren Beinen stand, zitterten ihre Knie vor Schwäche, doch sie schaffte es, sich anzukleiden, ehe Kalira zurückkam. Sie wartete auf der Bettkante. Als Kalira eintrat, hielt sie einen langen, weiten Umhang aus dichtem, rauem Stoff. Juliane hüllte sich in den Mantel. Gemächlich liefen sie einen Gang aus grob behauenem Felsen entlang. Von irgendwoher vernahm sie das beständige Tropfen von Wasser auf Stein. Immer wieder führten Türöffnungen in Kammern, deren Eingänge ebenso wie in Julianes Krankenzimmer durch Vorhänge verdeckt waren. Den dunklen Gang erhellten vereinzelte Fackeln. Juliane grübelte zum ersten Mal darüber nach, wo sie sich genau befand. »Kalira, wo sind wir hier? Ist das eine Burg?«
Kalira lachte bitter auf. »Nein, wir müssen uns wie Ratten in Höhlen verstecken.«
Eine ältere Frau mit grauem Haar kam ihnen entgegen. Sie trug ein Kleid aus groben Leinen und musterte Juliane mit unverhohlener Neugier. Die Frau grüßte freundlich und Kalira hielt sie auf, als sie an den beiden vorübergehen wollte. »Kara, das ist Juliane. Das Mädchen, das Torus und Trian gefunden haben.«
Kara nickte und schenkte ihr ein warmes Lächeln, das auch ihre Augen erreichte. »Wie schön, dass es dir besser geht.«
Als die Frau außer Hörweite war, erzählte Kalira: »Kara war einst die Zofe meiner Mutter.« Sie hielt plötzlich inne.
»Wie lange lebt ihr schon hier? Wurdest du in den Höhlen geboren?«
»Nein, als wir mit den morvannischen Dienern und
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