Der Zauberspiegel
Juliane nachdenklich an ihrer Unterlippe, ehe sie sich entschloss, so nahe wie möglich an der Wahrheit zu bleiben. »Die Todesreiter haben die Bauern, bei denen ich Obdach gefunden hatte, umgebracht. Zwei kamen zurück und … da lag ein Messer …« Obwohl Juliane ruhig und gefasst wirken wollte, vergaß sie die Worte, die eben noch auf ihrer Zunge gelegen hatten. Sie verlor die Fassung und zitterte unkontrolliert.
»Du hast sie angegriffen?« Elyna legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
Juliane zwang sich zur Ruhe. »Ich hatte mich im Haus versteckt und einer der Soldaten entdeckte mich. Er würgte und schlug mich. Einer der Knechte half mir, doch dann ging er zu Boden und ich tötete den Soldaten. Der Knecht und ich trennten uns auf der Flucht, und ich floh in die Berge.« Ihre bebende Stimme ließ sich nicht länger kontrollieren und verriet ihren Gefühlszustand, den sie zu überspielen versuchte. Überdies quollen nun auch noch Tränen aus ihren Augen. Toll! Gleich heulte sie wie ein kleines Kind. Wie befürchtet brach ein wahrer Sturzbach bei den Erinnerungen an die Schrecken und ihre Sorge um Ranon aus ihr hinaus.
Elyna setzte sich zu ihr und umarmte sie. An ihrer Schulter schluchzte Juliane, bis sie keine Tränen mehr hatte.
»Danke«, murmelte sie, als sie sich wieder gefasst hatte.
In mütterlicher Fürsorge legte Kalira ihre Hand auf Julianes Schulter. »Hier bist du in Sicherheit.«
Der Vorhang, der als Türersatz diente, schob sich beiseite und ein Mädchen mit einem Tablett trat ein. Sie lächelte Juliane scheu zu, begrüßte Elyna mit einem leichten Kopfnicken und reichte ihr das Speisetablett.
»Vielen Dank, Taleja.« Elyna nahm das Servierbrett und stellte es Juliane auf den Schoß.
Beim Anblick und dem Geruch der Speisen meldete sich Julianes Magen mit vernehmlichem Knurren zu Wort. Hungrig musterte sie das Essen. Vor ihr standen eine Schüssel mit heißer, würziger Brühe, ein paar Scheiben dunklen, körnigen Brots, das dick mit goldgelber Butter bestrichen war und ein Krug, in dem eine Flüssigkeit dampfte, die einen eigentümlichen Geruch verströmte.
Juliane schob sich den letzten Bissen Brot in den Mund, als ein Mann den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Königliche Hoheit, Rael wünscht Euch zu sprechen. Es eilt!«
Elyna erhob sich rasch. »Ich bin unterwegs, Klerk!«
Juliane verschluckte sich vor Überraschung und starrte Elyna hustend nach. »Hoheit?«, fragte sie Kalira, die ungerührt dastand und sie beobachtete. »Deine Mutter ist die Königin?«
»Sie ist die rechtmäßige Königin von Goryydon«, bestätigte Kalira nicht ohne Stolz in der Stimme.
»Dann … das bedeutet ja, du bist eine Prinzessin!«, stotterte Juliane aufgeregt. Sie fühlte sich geplättet. Eine Königin und eine Prinzessin! Wahnsinn, vor wenigen Wochen war sie noch auf der untersten Stufe der Nahrungskette gestanden, eine ungehorsame Schülerin kurz vor einem Verweis und nun kümmerte sich eine waschechte Königin höchstpersönlich um ihr Wohlergehen!
Kalira lächelte belustigt und nahm ihr das Tablett ab. »Bin ich. Aber fang jetzt nicht an, mich mit irgendwelchen Titeln anzureden. Ich bin einfach Kalira.« Sie stellte das Servierbrett auf den Tisch. »Erzähl, woher stammst du?«
Was sollte Juliane erzählen? Die Wahrheit?
Die war so unglaublich, dass selbst sie es kaum fassen konnte. Dann die Sache mit der Prophezeiung, wie würde Kalira reagieren, wenn sie ihr das Sonnensymbol zeigte? Und außerdem, wenn Kalira ihr glaubte, konnte sie ihr auch vertrauen? Juliane blickte auf ihre Finger. Nervös strich sie die Decke glatt. Sie versuchte, ihre telepathischen Kräfte einzusetzen, doch wieder einmal stellte sie fest, dass sie ihre Fähigkeiten nicht lenken konnte. Also musste sie sich auf ihren Instinkt verlassen und der sagte ihr, dass sie Kalira nicht zu fürchten hatte, im Gegenteil, aus einem Grund, den sie sich nicht erklären konnte, fühlte sie sich ihr verbundener als ihren eigenen Schwestern. Was allerdings keine große Kunst war. Der Altersunterschied und Julianes Außenseiterrolle war einer engen, geschwisterlichen Bindung nicht eben förderlich. Ob man ihr Verschwinden schon bemerkt hatte?
Juliane blickte Kalira ins Gesicht und erzählte ihre Geschichte von dem Moment, als sie der Unbekannten im Zug begegnet war. Am Ende seufzte sie. »Ich verstehe es, wenn du mir nicht glaubst. Ich begreife es selbst kaum.«
Kalira schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, erklärte sie.
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