Der Zauberspiegel
wenig vornüber. »Sei ehrlich und gesteh dir ein, dass du dich nach mir verzehrst.«
Kalira schnappte nach Luft. »Woher nimmst du dir das Recht heraus, so etwas zu behaupten? Das Einzige, nach dem ich mich verzehre, ist die Aussicht, dir das Herz herauszureißen.«
Der Felsvorsprung wankte, als Ranon in einer theatralischen Geste die Arme hochriss. »Nimm es, denn wenn du nicht darin wohnen willst, kann ich es nicht gebrauchen!«
Juliane bemerkte entsetzt, dass der Sims, auf dem Ranon stand, zerbröselte wie trockener Zwieback. Sie machte einen Satz nach vorn. »Ranon, pass auf …«
Nein! Der Gedanke peitschte durch Julianes Kopf. Sie blickte sich um und erkannte den Anflug von Panik in Kaliras Gesicht.
*
Mit einem gefährlichen Knirschen und Getöse zerbrach der Fels vollends und Ranon stürzte in einem Felsenhagel zu Boden. Einen Moment stockte Kaliras Herz. Sie starrte angestrengt in die Staubwolke und erkannte, wie Ranon geschmeidig wie eine junge Katze auf allen vieren aufkam. Mit einem Satz war sie bei ihm, ergriff seinen Arm und half ihm auf.
»Bist du verletzt?«, fragte sie. Er schien unverletzt, doch sicher war sie sich nicht. Natürlich galt ihre Sorge allein ihrer Mission. Ohne Ranon ließe ihre Mutter sie niemals das Lager verlassen. Sie verzehrte sich nach Freiheit! Endlich weg von diesem öden Felsen, einmal flachen Boden, Erde und Wald um sich herum fühlen, riechen, sehen und berühren können.
Ranon sah ihr mit glühender Leidenschaft in die Augen, sodass sie sich nervös abwandte. »Wie schön du bist«, bekannte er leise.
Verwirrt blickte sie auf. »Was ist los mit dir? Bist du betrunken?«, fragte sie flüsternd. Ihr Herz schlug wild und sie fühlte die Hitze in ihrem Inneren, die von Ranons Blicken ausgelöst wurde.
Er war nicht betrunken und doch wirkte er ganz anders als sonst. Zum ersten Mal hatte sie nicht das Bedürfnis, ihn zu schlagen oder zu treten, sondern sehnte sich danach, mit ihren Fingern durch sein Haar zu streichen.
Ihre Hände umklammerten immer noch seinen Arm, und sie ließ ihn abrupt los. Kalira sprang auf und wandte sich ihrem Pferd zu, einem herrlichen schwarzen Wallach. Sie zurrte ihre Armbrust an seinem Sattel fest und spürte die intensiven Blicke Ranons in ihrem Rücken, ohne darauf in irgendeiner Weise zu reagieren.
Elyna und die anderen Rebellen kamen, um sich von Juliane, Ranon, Torus und ihr zu verabschieden.
*
Manche von ihnen kannte Juliane nur flüchtig. Da seit dem Frühlingsanfang ein reges Kommen und Gehen im L ager geherrscht hatte, schloss sie Freundschaft nur mit jenen, die sich ständig im Versteck aufhielten.
Die Besorgnis und Hoffnung der Rebellen schwirrte durch ihren Kopf. Sie lächelte eingeschüchtert, überwältigt von den Gedanken der Zurückbleibenden und gerührt von der Herzlichkeit, mit der man sie verabschiedete.
Brack schlug Juliane zum Abschied auf die Schulter. »Pass auf dich auf, Mädchen. Ich bevorzuge meine Schüler lebendig und an einem Stück!« Er zwinkerte.
Juliane lächelte gequält.
Kalira, Ranon und Torus verabschiedeten sich mit einer Warmherzigkeit von ihren Familien, die Juliane einen Stich versetzte. Ihre Eltern würden sie nie so an sich drücken wie Elyna Kalira. Ihr Vater hatte sie noch nie mit einer solch besorgten Miene betrachtet wie Rael seinen Sohn Ranon.
Juliane und ihre Mitstreiter stiegen auf und winkten den anderen noch einmal vor der ersten Biegung des Weges zu, dann ritten sie schweigend in Richtung des Tales davon.
Die Landschaft erwies sich die meiste Zeit als trostlos. Grau auf Grau, durchbrochen lediglich von vereinzelten harten Gebirgsgräsern, die störend wie die Ohrhaare eines Glatzköpfigen anmuteten. Die Umgebung wirkte sich beklemmend auf Julianes Gemüt aus. In den vergangenen Tagen war der Weg oft schmal und steil gewesen, sodass sie nur langsam vorankamen.
»Hinter diesem Bergkamm liegt das Tal«, verkündete Torus und strahlte über das ganze Gesicht. Nachdem er sie seit zwei Tagen damit beruhigt hatte, sie hätten das Tal bald erreicht, nahmen sie diese Nachricht alle ohne erkennbare Gefühlsregungen auf.
»Ich spare mir meine Freude für unsere Ankunft im Tal auf«, entgegnete Juliane stöhnend, um wenigstens etwas von sich zu geben. Ihr Hintern und ihre Beine schmerzten fürchterlich.
Ein unbestimmtes Gefühl ließ sie nach oben blicken. Ihr war, als ächzten und flüsterten die Felsen auf einmal. Sie starrte auf die grauen Felswände, die sich
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