Der Zauberspiegel
Daumen in den Hosenbund und zwang ihren Blick auf den Boden. Wurde ihre telepathische Gabe stärker? Konnte sie nun auch noch Gefühle lesen und was zur Hölle hatte dieses silberne Ding in der Luft zu bedeuten? Angst schoss durch ihre Venen. Sie hasste es, keine Kontrolle über ihre Fähigkeiten zu besitzen.
»Was haltet ihr davon, wenn wir die Nacht hier verbringen?«, fragte Torus und riss sie aus ihren Grübeleien. Schatten lagen unter seinen Augen, und er fuhr sich fahrig mit dem Ärmel seines Hemds über das Gesicht, als könnte er die Müdigkeit von dort fortwischen.
»Tolle Idee, ich bin echt fix und fertig«, stimmte Juliane zu.
Kalira und Ranon waren ebenfalls einverstanden und offenbar genauso müde, denn sie verzichteten darauf, sich zu streiten.
Torus klopfte Ranon auf die Schulter. »Sei ein guter Junge, schnapp dir Juliane und besorgt uns etwas für das Abendessen.« Als Nächste fixierte er Kalira. »Wir beide haben inzwischen etwas Dringendes zu besprechen.«
Ranon und Juliane durchkämmten das nähere Dickicht. Ranons Miene verriet Anspannung, ob aus Müdigkeit oder Konzentration, vermochte sie nicht zu bestimmen.
Eigentlich war er ein ganz prima Kerl. Zuverlässig und nett. Außerdem sah er gut aus mit seinen zerzausten Haaren und den markanten Gesichtszügen. Er und Kalira gäben ein schönes Paar ab. Nur Kalira müsste man davon noch überzeugen. Ob sie es wagen sollte, nach Ranons Sichtweise zu der ganzen Misere zu fragen? Vielleicht würde sie dann besser verstehen, warum sich die beiden dermaßen spinnefeind waren. »Ranon?«
»Ja?« Er blieb stehen und blickte lächelnd auf sie herab.
»Warum ist Kalira wütend auf dich?«
Sein Lächeln war mit einem Mal wie fortgewischt. Er presste die Lippen aufeinander, setzte sich auf einen umgestürzten Baum und klopfte neben sich. »Komm.«
Als sie Platz genommen hatte, legte Ranon seine Armbrust zur Seite und blickte nachdenklich vor sich auf einige Pilze. »Was hat sie dir erzählt? Die alte Geschichte, ich hätte mit ihr und ihren Gefühlen gespielt?«
Juliane zuckte mit den Schultern, nickte dann aber.
»Sie wollte mich begleiten. Das konnte ich nicht zulassen. Irgendwann hätte sie jemand erkannt und an die Schwarzen verraten. Goryydon würde im Chaos versinken, wenn die einzige Thronfolgerin der direkten Blutlinie tot wäre.« Ranon starrte auf den Boden. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, sie zu verlieren.« Seine Schuldgefühle waren beinahe greifbar. Ebenso seine Sehnsucht. In ihrem Magen kribbelte es vor Mitgefühl. Unerfüllte Liebe musste sich schrecklich anfühlen. Wie fantastisch musste erst glückliche Liebe sein?
Nachdenklich spielte sie mit ihrem Dolch. »Elyna hätte kein Anrecht auf den Thron?«, fragte sie, um das Schweigen zu brechen.
Ranon nickte. »Ich musste Kalira dazu bringen, im Versteck zu bleiben. Ihr das Herz zu brechen, erschien mir als die beste Möglichkeit.«
»Du bist ein Idiot. Wie konntest du ihr das antun?«
Er beachtete ihren Einwurf nicht. »Ich sehe noch immer ihren gepeinigten Blick in meinen Träumen. Ich wollte …, wenn wir andere Menschen wären, zu einer anderen Zeit, hätten wir eine Zukunft gehabt.« Er sprang auf. Das Gespräch schien beendet. Vermutlich, weil es ihn zu sehr schmerzte. »Komm, Schluss mit dem trübsinnigen Gerede. Sehen wir zu, dass wir etwas für unser Abendessen tun.«
Aber Juliane war noch nicht fertig. »Es liegt doch nicht daran, dass du nur ein einfacher Knecht bist?«
Ranon grinste. »Ein Knecht? O Juliane, der Stammbaum meiner Familie reicht bis zu den Zeiten der großen Zadieyek zurück. Mein Vater ist der Herzog von Pernon.«
Sie atmete einmal tief durch, um das Gesagte zu verarbeiten. »Kein Grund hochnäsig zu sein, Euer Durchlaucht! Ich hoffe, ich muss dich nun nicht mit Titel ansprechen.« Sie zwinkerte, um die Stimmung etwas zu heben, dann wurde sie wieder ernst. »Rede mit ihr, Ranon. Erklär ihr deine Situation, sie wird es verstehen.«
»Sie erträgt meine Nähe kaum. Und nichts wird daran wieder etwas ändern.«
Und er liebte sie abgöttisch. Was für ein Chaos! Juliane wusste, dass er es ernst meinte. Sie bewunderte Ranon für seine innere Stärke. Er hatte damals diese Entscheidung getroffen, um Kalira zu schützen. Um zu schützen, was er liebte. Dafür hatte er einen hohen Preis gezahlt. Nämlich Kaliras Liebe.
Trotz allem glaubte Juliane nicht, dass bereits alles verloren war. Sie sah doch, wie Kalira ihn ansah, wenn sie dachte,
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