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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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Zweier- und Vierertische. Die meisten Bewohner stellten sich brav in die Schlange, wo ihnen Frauen mit Haarnetzen Kartoffelbrei und Hackbratenscheiben aus Wärmebehältern auf die Teller klatschten. Es war wie in der Schulkantine. Wer nicht so lange stehen konnte, bekam seinen Teller an den Tisch gebracht.
    Als ich eine alte Dame namens Lucy an einen Vierertisch schob, sagte sie plötzlich: »Herrje, ich glaub, ich hab mein Portemonnaie im Zimmer vergessen.« Ihr Gesicht war schrumplig wie eine Rosine und sie hatte trübe, wässrigblaue Augen. »Kann ich Ihnen das Trinkgeld auch morgen geben, junger Mann?«
    »Kein Problem«, antwortete ich.
    Ihre Tischnachbarin mit den rot gefärbten Haaren meinte nur: »Hören Sie gar nicht darauf. Das sagt sie zu allen Neuen. Nach ein paar Tagen lässt sie es bleiben. Aber verraten Sie es Peggy nicht! Sonst kommt Lucy in die Pflege, und dort geht sie ein wie eine Primel. Außerdem brauchen wir sie hier beim Bridge, solange sie noch halbwegs bei Verstand ist.« Zu Lucy sagte sie: »Ich erledige das schon, Schätzchen.«
    »Aber gib ihm ein schönes Trinkgeld, ja? Meinst du, ein Dollar ist angemessen?«
    »Wird gemacht.« Die Rotgefärbte tätschelte Lucy die Hand, und eine Angestellte schob ihr den Teller hin. »Heute gibt’s Hackbraten mit Kartoffelbrei und grünen Bohnen.«
    »Mein Leibgericht!« Lucy strahlte mich an. »Das Geheimnis einer guten Tomatensoße sind Zucker und eine Prise Safran. Das mildert die Säure.«
    »Stimmt«, bestätigte ich.
    »Essen Sie auch so gern Hackbraten?«
    »Ja.«
    »Wollen Sie sich dann nicht zu uns setzen?«
    »Das geht nicht, Schätzchen.« Die Rotgefärbte nahm sich ein Brötchen aus dem Korb, drehte es hin und her, legte es wieder zurück, nahm sich ein anderes und sagte dann: »Er muss sich doch auch um die anderen Gäste kümmern.«
    »Wie schade«, befand Lucy.
    »Christian!« Peggy stand in der Tür und winkte mir.
    »Ich muss leider los«, verabschiedete ich mich von Lucy. »Vielleicht ein andermal.«
    Ich hörte sie noch sagen: »Was für ein reizender junger Mann! Beim nächsten Mal gibst du ihm bitte zwei Dollar, Regina.«
    + + +
    Nach dem relativen Trubel im Haus Seeblick – man blickte übrigens tatsächlich auf den See, auch wenn es ein künstlich angelegter Teich war und kaum größer als ein Planschbecken – wirkte die Pflegestation auf mich wie ein richtiges Krankenhaus: Schwestern in weißen Kitteln saßen hinter einem hufeisenförmigen Tisch mit Computerbildschirmen. Dahinter standen verglaste Schränke voller Medikamente. An dem Tisch saß auch eine hübsche Frau mit schulterlangem kastanienbraunen Haar und dunklen Mandelaugen. Caravaggio , dachte ich. Die Dunkelhaarige telefonierte und schrieb mit, aber sie blickte hoch und lächelte uns an, als wir vorbeigingen.
    »Wer war das?«, fragte ich Peggy.
    »Die diensthabende Ärztin. Sie wechselt sich mit zwei anderen Kollegen aus der Stadt ab. Normalerweise macht sie abends die Runde, wenn ihre eigene Praxis geschlossen hat, oder ganz frühmorgens. Wenn wir sie nachts brauchen, rufen wir an.«
    »Kommt das oft vor?«
    »Manchmal öfter, als uns lieb ist. Im Notfall können wir den Patienten reanimieren und stabilisieren, aber wenn es Komplikationen gibt – wenn jemand zum Beispiel operiert werden muss –, dann wird der- oder diejenige ins Krankenhaus in Ashbury gebracht. Manche kommen wieder hierherzurück, manche nicht. Die meisten schon. Wir sind auch ein anerkanntes Hospiz.«
    »Wie? Die Leute … sterben hier?«
    Peggys Blick sprach Bände. BLITZMERKER! »Ob du’s glaubst oder nicht, hier zu sterben ist besser als im Krankenhaus. Wenn es bei mir mal so weit ist, möchte ich natürlich am liebsten zu Hause in meinem eigenen Bett sterben. Wenn das aber nicht geht, wäre ich gern irgendwo, wo ich nach draußen schauen und Wasser und Bäume sehen kann. Wo ich meine eigenen Sachen im Zimmer habe. Es gibt Schlimmeres, als hier bei uns zu sterben.«
    Die Abteilung war groß und im Viereck um das Schwesternzimmer herum angelegt. Laut Peggy gab es ungefähr hundert Patienten. Es war auch viel stiller hier, man sprach unwillkürlich leiser. Nur ab und zu hörte man aus dem einen oder anderen Zimmer irgendwelche Apparate piepsen. Viele Bewohner trugen Krankenhaushemden und lagen in vergitterten Krankenhausbetten. Es roch auch anders: nach Desinfektionsmittel wie im Nebengebäude, aber außerdem durchdringend nach alten Leuten. Ich meine, nach Windeln. Die Bewohner waren nicht

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