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Der Zeichner der Finsternis

Der Zeichner der Finsternis

Titel: Der Zeichner der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilsa J. Bick
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der Kuhle herum, bis die Skizze verwischt war. Dann ging ich zurück ins Haus.
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    Auf dem Heimweg sagte Onkel Hank: »Die Therapeutin, zu der du gehen sollst, hat angerufen. Sie heißt Helen Rainier.« Er machte eine Pause, als wartete er darauf, dass ich nachfragte, aber als nichts kam, redete er weiter: »Du sollst dienstags nach der Schule in ihre Praxis kommen und vielleicht auch noch donnerstags oder freitags. Dazu muss sie dich aber erst mal kennengelernt haben, meinte sie.«
    Hm. Neben der Arbeit an der Scheune, den Sozialstunden im Altenheim, mit denen ich am nächsten Tag anfangen sollte, der Sache mit Dekkers Motorrad und jetzt noch den Therapieterminen blieb mir tatsächlich kaum noch freie Zeit. Außerdem standen in der Schule etliche Prüfungen an, für die ich lernen musste.
    Ich wurde zum ersten Mal richtig sauer, seit das Ganze angefangen hatte. Okay, ich war ein Außenseiter und ziemlich sonderbar, aber sogar ich hatte so was wie ein Leben! Doch es war zwecklos, sich zu beschweren. Onkel Hank würde bloßsagen: Was passiert ist, ist nicht zu ändern. Oder: Wie man sich bettet, so liegt man. Oder irgendwas anderes in der Art.
    Deswegen fragte ich lieber: »Kommst du mit? Zu der Therapeutin?«
    »Nur wenn sie mich dazu auffordert. Soll ich denn? Wenn es dir lieber ist, komme ich mit.«
    Ja! , dachte ich. Nein! , dachte ich. Ach Mist, ich wusste es doch selbst nicht. »Nö. Was soll mir die Frau schon Neues erzählen außer dem, was alle anderen sowieso von mir denken?«
    Darauf wusste Onkel Hank auch keine Antwort.
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    In dieser Nacht hatte ich keinen Traum. Ich trieb mich auch nicht im Körper eines unbekannten Jungen herum. Nach dem Aufwachen entdeckte ich keine neuen Zeichnungen auf meinem Block.
    Mir war’s recht so.

IX
    Montag.
    Ich war den ersten Tag wieder in der Schule. Eigentlich war alles wie immer. Ich wurde nur noch öfter als sonst komisch angeglotzt, wegen der Naht am Kopf und meinen zugepflasterten Armen.
    In der Mittagspause entdeckte ich Sarah an einem Tisch mit ihren Freundinnen. Die Freundinnen drehten sich nach mir um, und das übliche Gekicher und Getuschel ging los. Als Sarah mich sah, machte sie ein erschrockenes Gesicht und hob grüßend die Hand, ließ sie aber auf halber Strecke wieder sinken, als wäre ihr gerade aufgefallen, was sie tat.
    Ich ging in den Kunstraum. Ich aß schon lange nicht mehr in der Schulkantine. Wir durften auch in den Klassenräumen essen, wenn wir noch etwas zu tun hatten, und ich verbrachte meine Mittagspause schon seit der Neunten im Kunstraum.
    Ich wickelte mein Brot aus. Großen Appetit hatte ich nicht. Genau genommen hatte ich seit den Schoko Smacks am letzten Donnerstag kaum etwas gegessen. Mich beschäftigte die ganze Zeit, was eigentlich mit mir los war – ob ich womöglich verrückt war. Dann spürte ich immer eine Beklemmung, als hätte ich ein straff gezogenes Gummibandum die Rippen. So hatte ich mich seit Tante Jeans Tod nicht mehr gefühlt. Was mir Sarah alles über Geisteskrankheiten erzählt hatte, machte mir Angst. Ich wusste eigentlich nur, dass Geisteskranke oft versuchten, sich selbst oder andere Leute umzubringen. Und dass sie pfundweise Pillen schlucken mussten, die fiese Nebenwirkungen hatten und von denen man dick und zittrig wurde. Diejenigen, die keine Medikamente nahmen, führten Selbstgespräche, hatten Läuse, schlurften in den Großstädten mit Einkaufswagen voller Müll durch die Straßen und schliefen auf Parkbänken.
    Wenn ich tatsächlich geisteskrank war … war es dann nicht besser, auf die andere Seite zu verschwinden? Selbst wenn ich meine Eltern nicht wiederfand – war es nicht viel besser, von einem Ungeheuer gefressen zu werden, als den Rest seines Lebens an einer Straßenecke zu hocken und mit einem Starbucks-Becher um Kleingeld zu betteln? Wischten sich Obdachlose überhaupt den Hintern ab, wenn sie gekackt hatten? Wenn sie doch nirgendwo hinkonnten, wie sollte das dann gehen? Mit alten Zeitungen oder mit den bloßen Händen oder wie?
    Ich konnte nicht mal an Moms Porträt weiterarbeiten. Es ging einfach nicht.
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    Das Seniorenheim hieß Espenwald und lag acht Meilen außerhalb der Stadt. Ich war schon oft mit dem Fahrrad in der Gegend gewesen. In der Nähe ist ein Waldstück mit hohen Kiefern. Angeblich wurden die Bäume gepflanzt, als unsere Stadt noch ganz groß im Schiffsbaugeschäft war. Es sindWeymouth-Kiefern, die sehr gerade wachsen, und die Stämme eignen sich gut als

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