Der Zeitdieb
Küchendienst«, sagte Lu-Tze. »Um dich die Tugenden von
Gehorsam und harter Arbeit zu lehren, nicht wahr?«
»Ja, Kehrer.«
»Und funktioniert es?«
»Äh, ja.«
»Wirklich?«
59
»Nein.«
»Meiner Ansicht nach taugen solche Dinge nicht annähernd so viel,
wie manche Leute glauben«, sagte Lu-Tze. »Ganz anders sieht es hiermit aus.« Er trat durch einen Torbogen. »Dies ist ein lehrreiches Erlebnis…«
Es war der größte Raum, den Lobsang jemals gesehen hatte. Speere
aus Licht stachen von Fenstern in der hohen Decke herab. Unten befand sich etwas, das mehr als hundert Meter durchmaß. Ranghohe Mönche
kümmerten sich darum, gingen auf Kabelwegen darüber hinweg…
Lobsang hatte vom Mandala gehört.
Jemand schien Tonnen von buntem Sand genommen und ihn auf dem
Boden verteilt zu haben, wodurch ein farbiges Chaos entstand. Doch in diesem Chaos kämpfte Ordnung ums Überleben, stieg auf und fiel,
dehnte sich aus. Millionen von zufällig dahinrieselnden Sandkörnern
schufen das Fragment eines Musters, und dies wiederholte sich in
anderen Bereichen, prallte an fremden Mustern ab oder vereinte sich mit ihnen, bevor es in der allgemeinen Unordnung verschwand. Es geschah
immer wieder, und dadurch wurde das Mandala zu einem stummen
Schlachtfeld aus Farben.
Lu-Tze trat auf eine nicht besonders stabil aussehende Seilbrücke.
»Nun?«, fragte er. »Was hältst du davon?«
Lobsang atmete tief durch. Wenn er von der Brücke fiel… Er stellte
sich vor, dann für immer zu fallen, ohne jemals auf den Boden zu
prallen. Er blinzelte und rieb sich die Stirn.
»Es ist… böse«, brachte er hervor.
»Ach?«, erwiderte Lu-Tze. »Das sagen nur wenige Leute beim ersten
Mal. Von den meisten hört man Worte wie ›wundervoll‹.«
»Es ist falsch!«
»Was?«
Lobsang klammerte sich an den Seilen fest. »Die Muster…«, begann er.
»Geschichte, die sich wiederholt«, sagte Lu-Tze. »Sie sind immer da.«
»Nein, sie…« Lobsang versuchte, alles zu erkennen. Es gab Muster
unter den Mustern, als Teil des Chaos getarnt. »Ich meine… die anderen Muster…«
60
Er sank nach vorn.
Die Luft war kalt, die Welt drehte sich, und der Boden sprang ihm
entgegen.
Und verharrte in einer Entfernung von etwa zehn Zentimetern.
Die Luft um ihn herum brutzelte, schien langsam gebraten zu werden.
»Neulich Ludd?«
»Lu-Tze?«, fragte er. »Das Mandala ist…«
Aber wo waren die Farben? Warum fühlte sich die Luft feucht an, und
weshalb roch sie nach der Stadt? Und dann verblassten die geisterhaften Erinnerungen. Während sie verschwanden, flüsterten sie: Wie können
wir Erinnerungen sein, wenn wir erst noch geschehen müssen? Du
erinnerst dich bestimmt daran, dass du auf das Dach der Bäckergilde geklettert bist, um dort festzustellen, dass jemand die Schlusssteine gelockert hat, denn das ist gerade passiert.
Und eine letzte sterbende Erinnerung raunte: He, das liegt Monate zurück…
»Nein, wir sind nicht Lu-Tze, geheimnisvoller fallender Junge«, sagte die Stimme, die seinen Namen genannt hatte. »Kannst du dich
umdrehen?«
Neulich drehte den Kopf, was ihm sehr schwer fiel. Er schien in Teer zu stecken.
Ein dicker junger Mann in einer schmutzigen gelben Kutte saß einen
Meter entfernt auf einer Kiste. Er sah ein wenig wie ein Mönch aus,
abgesehen von seinem Haar, das wie ein separater Organismus wirkte.
Es war nicht nur schwarz und zu einem Pferdeschwanz
zusammengebunden, sondern auch enorm. Es war Haar mit einer eigenen Persönlichkeit.
»Hauptsächlich ist mein Name Soto«, sagte der Mann darunter. »Marco
Soto. Bevor ich mir deinen merke, sollten wir herausfinden, ob du
überlebst oder nicht, einverstanden? Hast du jemals über die Vorzüge des geistlichen Lebens nachgedacht?«
»Derzeit erscheinen sie mir besonders erstrebenswert«, erwiderte…
61
Neulich, dachte er, so lautet mein Name. Aber warum fällt mir
»Lobsang« ein? »Äh, ich habe in Erwägung gezogen, einen neuen Beruf
zu ergreifen.«
»Dafür hast du einen guten Zeitpunkt gewählt«, sagte Soto.
»Ist dies eine Art von Magie?« Neulich versuchte, sich zu bewegen,
aber er hing weiterhin in der Luft, dicht über dem wartenden Boden.
»Nicht unbedingt. Offenbar hast du die Zeit geformt.«
»Ich? Wie soll ich das angestellt haben?«
»Du weißt es nicht?«
»Nein!«
»Ha, hör dir das an«, sagte Soto, als spräche er mit einem genialen
Begleiter. »Vermutlich braucht es die gesamte Zeit eines ganzen
Zauderers,
Weitere Kostenlose Bücher