Der Zeitdieb
ein wichtiger Aspekt war dieser: Das Kinn, auf das der Harkenstiel zielte, gehörte…
… jemandem wie mir.
Eine Zeit lang starrte Susanne ins Leere. Um sie herum kletterten
Historiker Bibliotheksleitern hoch, saßen an Pulten, blätterten in
Büchern und waren ganz allgemein damit beschäftigt, das Bild der
Vergangenheit der Perspektive der Gegenwart anzupassen. Einer von
ihnen suchte nach seiner Brille.
Die Zeit hat einen Sohn, dachte Susanne. Jemand, der sich in dieser
Welt aufhält.
Es gab einen Mann, der sich so sehr dem Studium der Zeit widmete,
dass sie für ihn real wurde. Er befasste sich mit den Hintergründen der Zeit, und die Zeit bemerkte ihn – so lautete Tods Auskunft. Es entstand so etwas wie Liebe.
Und die Zeit bekam einen Sohn.
Wie? Aufgrund ihrer besonderen Denkweise war Susanne imstande,
eine gute Geschichte mit solchen Fragen zu ruinieren. Die Zeit und ein Sterblicher. Wie sollte es möglich sein, dass sie… Nun, wie konnte es möglich sein?
Dann dachte Susanne: Tod ist mein Großvater. Er adoptierte meine
Mutter. Mein Vater war eine Zeit sein Lehrling. Mehr ist nicht
geschehen. Es waren beides Menschen, und ich entstand auf die übliche Art und Weise. Eigentlich sollte ich überhaupt nicht dazu fähig sein, 183
durch Wände zu gehen, außerhalb der Zeit zu leben und ein wenig
unsterblich zu sein. Aber ich bin es trotzdem, woraus folgt: Dies ist kein Bereich, in dem Logik oder allgemeine Biologie Gültigkeit haben.
Wie dem auch sei: Die Zeit ist ständig dabei, die Zukunft zu
erschaffen. Die Zukunft enthält Dinge, die in der Vergangenheit nicht existierten. Ein kleines Kind sollte einfach zu bewerkstelligen sein für etwas… für jemanden, der das Universum immer wieder neu erschafft.
Susanne seufzte. Außerdem musste man daran denken, dass Zeit nicht
die Zeit war. Ebenso wenig ließ sich Tod mit dem Tod gleichsetzen, oder Krieg mit dem Krieg. Sie hatte Krieg kennen gelernt und erinnerte sich an einen großen, dicken Mann mit einem eher peinlichen Sinn für Humor
und der Angewohnheit, sich zu wiederholen. Er kümmerte sich nicht
persönlich um jeden kleinen Tumult. Pestilenz, die ihr seltsame Blicke zuwarf, mochte Susanne nicht, und Hunger wirkte ausgelaugt und
unheimlich. Niemand von ihnen übte in dem Sinne seinen Beruf aus –
wenn man in dieser Hinsicht überhaupt von einem »Beruf« sprechen
konnte. Sie repräsentierten »Ressorts«.
Susanne dachte daran, dass sie die Zahnfee, die Seelenkuchenente und Des Alten Mannes Schwierigkeiten kennen gelernt hatte. Wenn man das
berücksichtigte, erschien es umso erstaunlicher, dass sie zu einem fast normalen Menschen herangewachsen war.
Während sie auf die Notizen blickte, löste sich ihr Haar und nahm
seine gewöhnliche Position ein – dadurch erweckte Susanne den
Eindruck, dass sie gerade etwas Elektrisches angefasst hatte. Wie eine Wolke dehnte es sich aus, mit einer schwarzen Strähne aus normalem
Haar.
Ihr Großvater mochte der Zerstörer von Welten und die letzte
Wahrheit des Universums sein, was aber nicht heißen sollte, dass er den kleinen Leuten kein Interesse entgegenbrachte. Vielleicht galt das auch für Zeit.
Susanne lächelte.
Die Zeit wartet auf niemanden, hieß es.
Vielleicht hatte sie einmal auf jemanden gewartet.
Susanne fühlte einen Blick auf sich ruhen, drehte den Kopf und sah
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den Rattentod. Er starrte durch die Gläser der Brille, die dem zerstreuten Mann gehörte, der auf der anderen Seite des Raums danach suchte. Auf einer schon seit langer Zeit nicht mehr beachteten Büste eines früheren Historikers saß der Rabe und putzte sich.
»Nun?«, fragte Susanne.
QUIEK!
»Ach, tatsächlich?«
Die Tür der Bibliothek wurde vorsichtig aufgestoßen, und ein weißes
Pferd kam herein. Normalerweise bezeichnete man solche Pferde als
»Schimmel«, aber in diesem Fall musste selbst die krummbeinige
Zukunft von einem weißen Ross sprechen. Es war nicht weiß wie Schnee, denn das ist ein totes Weiß, sondern weiß wie Milch, was ein lebendes Weiß bedeutet. Zaum und Zügel waren schwarz, ebenso der Sattel, doch diese Dinge dienten allein der Schau. Wenn das Pferd des Todes es
jemandem gestattete, auf ihm zu reiten, so blieb die betreffende Person auf dem Rücken, was auch immer geschah. Die Anzahl der Personen, die das Pferd tragen konnte, unterlag keinen Beschränkungen. Immerhin
brachen Epidemien manchmal ganz plötzlich aus.
Die Historiker beachteten das Ross überhaupt nicht.
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