Der Zeitenherrscher
reisen würde.
Schließlich fanden sie sich auf dem Schiffsdeck ein. Alle hatten sich in mehrere Lagen Decken und Kleidung gehüllt. Alle, bis auf Caspar.
„Ich gehe nicht“, verkündete er knapp.
„Bist du sicher? Du könntest doch …“ Simon verstummte. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder das Messer aufblitzen,mit dem Caspar ihn in der ersten Nacht auf dem Schiff willkommen geheißen hatte. Es war gewiss besser, Caspar nicht umzustimmen.
„Dies ist euer Kampf “, sagte der auch nur knapp. Dann ging er wieder in den Mannschaftsraum hinunter.
„Ich weiß wirklich nicht, was ich von ihm halten soll“, brachte Neferti hervor.
„Ich auch nicht. Aber darüber können wir uns später Gedanken machen“, erwiderte Nin-Si. „Lasst uns Moon suchen!“
Einer nach dem anderen verließen sie das Schiff. Der Seelensammler lag so dicht am Flussufer, dass die vier leicht vom Ende der Strickleiter auf das Land springen konnten.
Die dünne Schneedecke knirschte unter ihren Füßen. Eingehüllt in ihre Decken und Stoffe und mit einem Rucksack voller Proviant, den Salomon eilig gepackt hatte und nun auf dem Rücken trug, kamen sie nur mühsam voran. Der eiskalte Wind machte ihnen zu schaffen, und die Kälte kroch ihnen bald unter ihre dicke Stoffhaut.
Simon führte wieder die Gruppe an, was ihm dieses Mal allerdings nicht recht war. Weil er ihnen erzählt hatte, dass er viel über das Massaker wusste, aus dem heraus Moon gerettet worden war, hatten die Zeitenkrieger ihm wieder die Führung überlassen. Zwar wusste Simon tatsächlich eine Menge über das, was sie erwartete, doch er hatte keine Ahnung, ob sie sich auf dem richtigen Weg befanden. Woran hätte er sich auch orientieren sollen?
So versuchte er nur, die nordwestliche Richtung entlang des Flusslaufs beizubehalten.
Gewiss waren schon einige Stunden vergangen, als Salomon keuchend vor Erschöpfung bat: „Simon, kannst du uns etwasüber das verraten, worauf wir gerade zugehen? Was genau wird dort geschehen am – wie sagtest du heißt das? Wounded Knee ?“
Simon war seinem Freund dankbar für diese Frage. Schweigend hintereinander herzugehen und dem Wind zu trotzen, ließ sie nur ihre Übermüdung und Kraftlosigkeit spüren. Vielleicht war es wirklich das Beste, die anderen ein wenig vorzubereiten.
Also erzählte Simon seinen Freunden alles, was er über das Massaker am Wounded Knee gelesen und gelernt hatte.
„Heute ist einer der bisher schrecklichsten Tage in der Geschichte dieses Landes. Unzählige Kriege, Schlachten und Streitigkeiten sind dem vorausgegangen. Auseinandersetzungen zwischen Indianern und Weißen und auch zwischen verschiedenen Indianerstämmen untereinander. Wir bewegen uns gerade in einer Zeit, in der die Menschen voller Angst und Hass sind. Unterdrückung und Missverständnisse machen alles immer schlimmer – bis es zur Katastrophe kommt. Heute, am 29. Dezember 1890.“
„Was genau wird geschehen?“, hakte Salomon nach.
„Das Land war von den Weißen in Reservate aufgeteilt worden, in denen die Indianerstämme leben mussten. Wie gesagt: Es hatte Kriege gegeben. Die Ureinwohner Amerikas hatten sich dagegen gewehrt, von dem Land vertrieben zu werden, in dem bereits ihre Vorfahren gelebt und gejagt hatten. Vor allem boten die Reservate keine gute Grundlage für ihr Leben. Jagen konnten sie dort nicht. Und auf dem harten Boden konnten sie kein Getreide anbauen. Doch all ihr Widerstand nützte nichts. Gegen die Waffen und gegen die Verschlagenheit der Weißen hatten die Indianer keine Chance. Immer mehr Indianerhäuptlinge unterwarfen sich mit ihrem Volk den Gesetzen der Weißenund zogen wieder in die Reservate. Verzweifelt und in ihrem Stolz verletzt waren sie. Aber sie mussten nicht nur ihre Heimat verlassen, nein, auch lang überlieferte alte Traditionen, ja sogar ihre Religion, wurden ihnen dadurch genommen. So stand es in den Büchern. Ich könnte euch die Artikel auswendig zitieren, so oft habe ich sie gelesen.
Ein Indianervolk allerdings wehrte sich bis zuletzt: die Sioux-Indianer, zu denen auch die Lakota gehören.“
„Moons Stamm“, warf Neferti ein.
„Genau. Moons Familie. Sie leisteten bis zuletzt Widerstand. Sie wollten ihr Land an den Black Hills nicht verlassen. Sie kannten die Reservate. Viele hatten sogar versucht, dort zu leben. Doch vergeblich. Es war dennoch wieder zu Kriegen gekommen. Und wieder unterlagen die Indianer den Soldaten der amerikanischen Kavallerie. Als schließlich am 15. Dezember
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