Der Zeitenherrscher
gemeinsam mit den Bildern, die er aus Filmen oder Büchern kannte. Keine sengende Hitze über Steppe und Prärie. Keine Wildpferde, die über die Weiten stoben, und auch keine Kuhherden, die von pfeifenden und brüllenden Cowboys durch die Landschaft getrieben wurden. Nur Hügelformationen, auf denen sich gelegentlich abgestorbene Büsche oder entlaubte Bäume zeigten. Eine dünne Schneedecke, aus der die Spitzen brauner Grashalme herausschauten, ließ die gesamte Gegend wie schlafend erscheinen.
Aber Simon war keineswegs überrascht. Er hatte mit diesem Anblick gerechnet. Aus den Lexika der Bibliothek wusste er, dass sie sich nicht im Sommer des „Wilden Westens“ befanden, sondern dass es gerade Dezember war. Und im Winter gab es nun einmal keine Rinder jagenden Cowboys in der Steppenhitze.
Der Seelensammler knarrte erneut. Winzige Eisbrocken, die auf der Wasseroberfläche schwammen, kratzten an seiner Hülle. Sie trieben auf einem schmalen Fluss, der viel zu eng für dieses riesige Schiff war.
„Und nun?“ Salomon war neben Simon aufgetaucht. Er hielt die Hände dicht an seinem Oberkörper, um die Kälte abzuwehren, doch sein Zittern zeigte, dass ihm das nicht viel nützte.
„Irgendwo da draußen ist Moon und braucht uns.“
„Und wo sollen wir mit der Suche beginnen? Rund um uns herum gibt es nur eisigen Wind und dünnen Schnee. Welche Richtung sollen wir einschlagen?“
Simon dachte nach. All sein Wissen, das er sich angeeignet hatte, nützte ihm im Moment wenig. Zwar hatte er die Kartevon Süd-Dakota direkt vor Augen, doch er wusste ja nicht, wo genau sie gelandet waren. Er …
Ein knarrendes Geräusch ließ die beiden Jungen herumfahren. Die Zeitmaschine bewegte sich. Nein, etwas an der Zeitmaschine bewegte sich. Simon und Salomon liefen darauf zu.
Es war die Raubtierkralle an dem goldenen Bügel, die sich bewegte. Zitternd rührte sie sich erst zur einen, dann zur anderen Seite, bis sie unvermittelt stehen blieb.
Salomon ging näher heran. „Was hat das zu bedeuten?“
„Sie zeigt nach Nordwesten“, gab Simon zur Antwort. „Vielleicht sollten wir in dieser Richtung mit unserer Suche beginnen.“
Nun kam Nin-Si auf die beiden zu. „Bist du sicher?“, fragte sie misstrauisch. „Wer sagt dir, dass es nicht die Magie des Schattengreifers ist, mit der er uns verwirren will? Vielleicht sitzt er gerade in seiner Welt und bewegt von dort aus diese Kralle, um uns in die Irre zu führen.“
Simon verzog das Gesicht. „Das ist gut möglich. Dennoch, ich bin dafür, dass wir es in dieser Richtung versuchen. Der Fluss führt in dieser Richtung ohnehin nach Nordwesten, und irgendwie müssen wir ja beginnen.“
„Das sehe ich auch so“, stimmte ihm Neferti zu, und als auch Salomon nickte, gab sich Nin-Si geschlagen. „Aber lasst uns vorsichtig sein“, bat sie.
Simon rannte auf das Dach der Kajüte und nahm das Steuerrad in die Hand. Mit all seiner Geschicklichkeit versuchte er, das Schiff den schmalen Fluss entlangzusteuern. Ganz gewiss trug der Lauf des Flusses in diesen Monaten mehr Wasser als in den Sommermonaten. Dennoch stieß Simon immer wieder mit dem Schiff an oder kratzte an Steinen entlang, die er unter derWasseroberfläche nicht entdecken konnte. Der Seelensammler knarrte mehrmals so laut, als würde er aufschreien.
Schließlich gab Simon auf. „Ich fürchte, wir müssen zu Fuß weiter“, sagte er seufzend und vertäute das Steuerrad. „Ich kann sonst nicht für das Schiff garantieren.“
„Wie weit werden wir wohl laufen müssen?“, erkundigte sich Salomon, doch Simon machte nur ein ratloses Gesicht. „Wir sollten uns auf einen längeren Marsch einstellen.“
„Na, dann müssen wir uns aber wärmer anziehen“, sagte Salomon und seufzte ebenfalls. „Mal schauen, was wir finden.“
Gemeinsam kletterten sie in den Mannschaftsraum im Schiffsbauch. Dort suchten sie alle Decken und Kleidungsstücke zusammen, die sie finden konnten, um sich gegen die Kälte zu schützen.
Neferti reichte Simon das blaue Hemd, mit dem sie in seine Heimat gelangt waren. Simon zog es an – es passte perfekt.
„Und es ist wirklich nicht deines?“, hakte Neferti nach.
Simon schüttelte den Kopf. Es war ihm etwas unangenehm, dieses Hemd zu tragen. Es barg ein Geheimnis, und das machte es unheimlich.
Warum nur hatte er sich keine Wintersachen mitgenommen, in der Nacht, als er von zu Hause zum Schiff gerudert war? Er hatte doch gewusst, dass er möglicherweise in den Winter des Jahres 1890
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