Der Zeitenherrscher
keine Antwort, was die große nur noch mehr herausforderte: „Glaub nicht, dass du allmächtig bist. Nur weil du das Glück hattest, in dem Moment auf der Schulter des Magiers zu sitzen, als er seine Zauberkraft schulte. Zugegebenermaßen besitze ich selbst kaum Zauberkraft, aber immerhin kenne ich mich ein wenig aus.“
Nun wirkte die kleine Krähe doch eine Spur besorgt: „Was willst du damit sagen?“
Der krumme Schnabel klappte schon wieder herablassend auf und zu: „Ich weiß, dass ein solch mächtiger Zauber wie der, den du im Schnee ausgeführt hast, die Kräfte erlahmt. Die Zeit anzuhalten bedeutet größte Kraftanstrengung. Nicht umsonstzieht sich der Schattengreifer immer wieder in seine Hallen zurück, um sich zu erholen.“ Sie kam nahe an die kleine Krähe heran. „Ich weiß, dass du jetzt kraftlos bist. Nichts weiter als eine winzige Ansammlung struppiger Federn. Und ich werde dich lehren, noch einmal gegen mich anzutreten! Ich werde dir zeigen, was für ein Gefühl es ist, vor seinen Freunden blamiert zu werden!“ Sie wies auf Simon und Neferti. „Es ist alles da, um dir eine Lektion zu erteilen: deine Freunde und meine Wut. Also, mach dich auf eine besondere Lehre gefasst!“
Und ohne ein weiteres Wort sprang sie auf die kleine Krähe zu und verbiss sich mit ihrem krummen Schnabel in deren Gefieder am Hals.
Die kleine schrie gellend auf.
Simon stürzte hinzu, doch in diesem Moment ließ die große Krähe von der kleinen ab und funkelte Simon mit stechenden Augen entgegen. „Wage es nicht, dich einzumischen, federloser Menschenjunge! Sonst hacke ich dir die Augen aus.“
Sie funkelte ihn so hasserfüllt an, dass Simon unwillkürlich zurückschreckte. Schon vergrub der Vogel erneut seinen Schnabel in der aufschreienden kleinen Krähe.
„Simon!“, rief Neferti entsetzt. „Wir müssen doch etwas tun!“
Der Junge geriet in Panik. Keinesfalls würde er mit ansehen, wie diese beiden Vögel sich in Stücke hackten.
Das Geschrei der Krähen weckte nun auch die anderen Zeitenkrieger. Verschlafen und gleichzeitig erschrocken, versuchten sie, herauszufinden, was um sie herum vorging.
Simon ließ alle Vorsicht fahren. Er sprang auf die beiden kämpfenden Krähen zu, doch gerade, als er die größere der beiden packen wollte, gab es einen donnernden Schlag gegen das Schiff.
Die Krähen stoben erschrocken auseinander. Die Zeitenkrieger sprangen auf die Füße. Neferti klammerte sich an Simon.
Mit einem entsetzlichen Krachen neigte sich der Seelensammler zur Seite, und die Jugendlichen suchten sich Halt.
Das Schiff legte sich so sehr zur Seite, dass die Reling beinahe die Wellenspitzen berührte. Und allen war bewusst, was dies bedeutete: Der Schattengreifer würde in wenigen Momenten erscheinen.
Schon richtete sich das Schiff wieder auf. Die Jugendlichen verließen ihre sicheren Plätze und liefen zusammen.
„Der Tag geht ja gut los!“, sagte Salomon. „Erst das Geschrei der Krähen und jetzt auch noch der Schattengreifer.“
„Wir sollten auf alles gefasst sein“, mahnte Nin-Si. „Unser Ausflug nach Wounded Knee wird ihn nicht gefreut haben.“
Bei diesem Stichwort richteten alle ihre Aufmerksamkeit auf Moon.
„Wie geht es dir?“, fragte Simon besorgt.
„Es geht schon“, kam die Antwort leise.
„Dann bereitet euch vor!“, warf Neferti ein, und die sechs liefen auseinander, um sich erneut Halt zu suchen.
Keine Sekunde zu früh. Denn wieder wurde das Schiff von der Kraft des Zaubers ergriffen. Wieder legte es sich zur Seite, als zerre jemand an den Masten. Kurz nur, dann erhob es sich aus seiner Schräglage, und wie jedes Mal nach dem zweiten Stoß gegen den Seelensammler bildete sich die dichte Nebelwolke vorn am Bug des Schiffes. Nebelschwaden waberten an der Rückseite der riesigen Bugfigur, und in diesem Nebel konnten die Jugendlichen erkennen, wie sich langsam die hagere Gestalt des Schattengreifers herausbildete.
Der Schattengreifer war zu ihnen zurückgekehrt.Ein Schrei. Dann schlug er um sich, um die weiße Hand abzuwehren, die ihn greifen wollte. Es gelang ihm nicht. Die knochigen Finger kamen näher, berührten beinahe sein Gesicht.
Noch einmal schlug er um sich, dann riss er die Augen auf und stellte atemlos fest, dass er in seinem Bett lag. Verschwitzt und mit rasendem Herzen setzte sich Christian auf. Wie lange hatte er diese Träume schon nicht mehr gehabt? Jahre war es her, doch die Bilder waren ihm noch immer so vertraut, als wäre er erst gestern vor
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