Der Zeitenherrscher
sei ganz in seiner Nähe.
Wieder flammte das Licht kurz auf, und in diesem Moment war sich Simon bewusst, wo er sich befand: in der Höhle, die er in seinen Träumen und den Visionen immer wieder gesehen hatte.
Doch dieses Mal war es realer. Fauliger, erdiger, modriger Geruch stach ihm in die Nase, und Simon fühlte sich an etwas erinnert. Er konnte nur nicht einschätzen, was es war. Er blickte an sich herunter auf den Boden, auf dem er stand. Und schlagartig wurde ihm bewusst, wann er diesen Geruch schon einmal eingeatmet hatte.
Simon bückte sich und strich mit den Fingerspitzen über die feuchte Erde, auf der er stand. Sie roch nicht nur so, sie fühlte sich auch an wie die Erde, die Simon vor über einem Jahr aus der Welt des Schattengreifers auf den Seelensammler gebracht hatte.
Noch einmal strich Simon mit den Fingern über die Erde, dann hielt er inne und spitzte die Ohren. Er war nicht allein in der Höhle. Er spürte die Anwesenheit eines anderen. Und ohne sich umzudrehen war Simon klar, wer ihn hierher gebracht und begleitet hatte: Hinter ihm stand der Schattengreifer.
Simon erhob sich langsam. Das Fackellicht erhellte noch einmal die Höhle, und statt sich umzudrehen, suchte Simon die Wand nach den Kohlestrichen ab. Es war ihm, als erwarte der Schattengreifer diese Reaktion von ihm.
Sie waren da, die Striche. Allerdings nicht alle. Simon zählte neun. Ein Strich fehlte. Einer nur, da war sich Simon ganz sicher.Die anderen sahen genauso aus, wie Simon sie aus seinen Träumen kannte. Es fehlte nur einer, der hinterste, der letzte Strich.
Und so, wie Simon sich bewusst war, wer hinter ihm stand, war ihm auch klar, dass er die Kohlestriche mit einer Berührung hätte verwischen können.
„Ahnst du, wo du dich hier befindest?“ Die Stimme des Magiers verursachte in Simons Kopf ein Stechen, ähnlich wie der kurze Schmerz, der ihm am Wounded Knee durch den Kopf gefahren war, als Simon mit Moon gedanklich Kontakt aufgenommen hatte. Und wie auf dem Hügel über dem Wounded Knee wurde es Simon auch hier für einen kurzen Moment schwarz vor Augen, dann blickte er wieder auf die erleuchtete Höhlenwand. Der Schattengreifer hatte mit seiner Magie Zugriff auf Simons Gedanken erlangt.
„Was glaubst du, wo du hier bist?“, ließ der Schattengreifer seine Stimme erneut in Simons Kopf erschallen, und dieses Mal war das Stechen bereits nicht mehr so schmerzhaft.
„Eine Höhle“, antwortete Simon in Gedanken. „Direkt am Meer. Ich kenne diesen Ort aus einem Traum, den …“
„… ich dir geschickt habe“, ließ der Schattengreifer vernehmen. „Ich habe dir diesen Ort gezeigt.“
„Wo sind wir …?“
„Die Frage lautet nicht, wo wir sind, sondern wann wir sind. Du befindest dich hier in der Zeit vor der Zeit. Wir stehen am Anfang von allem. Warte nur, du wirst sehen …“
In diesem Moment wurde die Höhle von einem neuen Licht erhellt. Zwei Menschen betraten mit ihren Fackeln den Eingang der Höhle. Ein älterer Mensch und ein jüngerer. Ein viel jüngerer. Ein Junge, der möglicherweise etwa in Simons Alterwar. Doch das war schwer zu schätzen, denn er sah sehr ungewöhnlich aus. Seine Wangenknochen standen weit hervor, und das Kinn war nach vorn verschoben. Er ging leicht gebückt. Die Haare hingen ihm kraus vom Kopf, und seine Kleidung bestand aus Tierfellen.
Simon zuckte zusammen. Das mussten Urzeitmenschen sein! Ganz bestimmt befand er sich in einer der frühesten Epochen der Menschheit! Simon tippte auf die Steinzeit, doch er konnte sich auch leicht irren. Ruckartig warf er den Kopf herum, auf die Wandmalereien aus seinem Traum. Die Jagdszenen und Tierzeichnungen, die er in seinen Träumen gesehen hatte. Und die er auch aus Büchern über die Steinzeit kannte. Jetzt verstand er, warum sie so frisch waren.
Die beiden Menschen traten näher heran. Simon dachte daran, sich zu verstecken, doch dann fiel ihm ein, dass er sich in einem Zauber des Schattengreifers befand und er für die beiden gewiss nicht zu sehen war.
Die zwei kamen näher, und Simon konnte erkennen, wie hinter ihnen, außerhalb der Höhle, der Tag anbrach. Der ältere der beiden zog den jüngeren nahe an sich heran. Sie bemerkten Simon tatsächlich nicht. Simon reckte den Kopf vor und begutachtete den Jungen ganz genau. Diese weiße Haut, viel weißer als die des Mannes. Die hervorstehende spitze Nase und diese tiefen, dunklen Augen.
Erschrocken fuhr Simon zurück. Er drehte sich auf dem Absatz herum und blickte dem
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