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Der Zeitenherrscher

Titel: Der Zeitenherrscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Gemmel
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alledem geflüchtet. Krähenschnäbel, zerrissene Segel und Flammen, die gegen den Himmel stoben.
    Er setzte sich auf die Bettkante. Träume aus seiner Jugend. Erinnerungen an eine Begebenheit, die so weit zurücklag, dass Christian schon glaubte, das alles wäre Einbildung gewesen. Gerade so, als hätte es den Sprung von der Reling ins rettende Wasser nie gegeben.
    Er stand auf und sah sich nach seiner Frau um. Sie schlief. Nicht einmal sein Schrei hatte sie wecken können. Er lächelte. Typisch Jessica. Sie ließ sich durch nichts und niemanden ihren Schlaf nehmen. Es könnte Autoreifen regnen, sie würde nicht erwachen.
    Christian ging nach unten in die Küche. Er goss sich ein Glas Wasser ein und trank es in einem Zug aus. Mit dem leeren Glas in der Hand ging er ins Wohnzimmer und stellte sich vor das Foto, auf dem er als strahlender Sieger seiner ersten großen Regatta stand. An diesem Tag hatte alles begonnen.
    Jahrzehntelang hatte Christian nicht mehr diese Träume gehabt. Doch heute Nacht waren sie wieder so lebendig, so realistisch wie früher. Träume, auf die er gern verzichtet hätte. Träume, die ihn vor vielen Jahren so aus dem Schlaf gerissen hattenwie heute Nacht. Ähnlich wie es Simon nachts erging in der letzten Zeit, wenn er …
    Simon!
    Das Glas fiel dem Vater aus den Händen. Klirrend zerschlug es in tausend Teile auf dem Boden. Voller Panik stürzte Christian die Treppe hinauf und riss die Tür zu Simons Schlafzimmer auf.
    „Simon!“
    Doch das Bett war leer.
    Sein Sohn lag nicht darin.
     
    Simon hätte sich am liebsten in einem Winkel verkrochen. Und den anderen ging es wohl ebenso. Wieder einmal hatten sie den Zorn des Schattengreifers auf sich gezogen. Nur dieses Mal war alles vergeblich. Moon war wieder zurück. Der ganze Ausflug nach Wounded Knee war ein einziges Drama gewesen. Und nun würde auch noch die Bestrafung für ihre misslungene Rettungsaktion folgen.
    Simon hätte es den anderen gegenüber nicht gern zugegeben, aber ihm zitterten die Knie.
    Majestätisch trat der Schattengreifer aus der dichten Nebelwolke hervor. Auf seiner Schulter saß die mächtige Krähe, die ihn stets aus seiner Welt hierher begleitete. Und wie schon zuvor konnte Simon die Reste der Krähenfedern sehen, die sich in die Haut des Schattengreifers zurückzogen. Der Abschluss seiner Verwandlung, die für die Reise aus seiner Welt zum Seelensammler nötig war.
    Simon spürte, wie Neferti Stück für Stück an ihn heranrückte und schließlich zögernd nach seiner Hand griff. Simon beantwortete diesen Hilferuf, indem er seine Hand zärtlich, aberentschieden um ihre schloss. Er hörte Neferti erleichtert aufatmen.
    Als sich die letzten Federspitzen in die Haut verzogen hatten, bewegte sich der Magier langsam auf sie zu.
    Simon rechnete mit einem erneuten Wutausbruch. Vielleicht wieder mit Flüchen und Flammen, wie er es schon einmal erlebt hatte. Oder damit, dass der Schattengreifer ihn abermals brüllend von Bord jagen würde.
    Doch nichts dergleichen geschah. Zum Erstaunen aller wirkte der Schattengreifer völlig gelassen, als er auf das Deck trat. Schweigend und interessiert um sich schauend. Er blickte jedem Einzelnen in die Augen und nickte ihnen sogar zu.
    Simon spürte, wie der Druck von Nefertis Hand nachließ. Das unerwartet ruhige Auftreten des Magiers schien auch ihr aufzufallen.
    Fast in der Mitte des Schiffsdecks blieb der Schattengreifer schließlich stehen. Er wandte sich Moon zu und sagte in ruhigem Ton: „Du bist da. Wie geht es dir?“
    „Ich …“ Der Indianer brachte vor Erstaunen kaum einen Ton heraus. In der schnarrenden Stimme des Schattengreifers glaubte er echte Anteilnahme zu spüren. „Ich komme schon zurecht.“
    „Kannst du dich erinnern?“
    Moon nickte. „Ja. An beide Zeiten. Ich erinnere mich daran, wie Ihr beim ersten Mal aufgetaucht seid, um mit meiner Mutter zu sprechen, und ich erinnere mich an das zweite Mal, als meine Freunde erschienen sind.“
    „Das muss verwirrend sein“, antwortete der Schattengreifer, ohne seine Lippen zu bewegen, und Simon horchte auf. Es lag tatsächlich so etwas wie Mitgefühl in der Stimme des Magiers.
    „Verwirrend, ja“, gab Moon zurück. „Ihr habt recht.“
    Nun wandte sich der Magier Simon zu. „Und du? Wie geht es dir mit all dem, was du zu sehen bekommst?“
    Simon wurde immer unsicherer. Was hatte das zu bedeuten? Interessierte sich der Schattengreifer wirklich für die Verfassung seiner Jugendlichen? Oder führte er etwas im

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