Der Zeitenherrscher
Schattengreifers, die sich auf seine Schulter legte, und hörte dessen Stimme, die sich wieder völlig verändert hatte. Der Magier sprach in einem ruhigen, fast tröstenden Ton zu ihm: „Wohin ich auch reiste, an welchen Ort oder in welche Zeit ich kam, stets bot sich mir das gleiche Bild: Krieg und Zerstörung, Hunger und Verzweiflung, Streit und Missgunst, Angst und Schrecken. Es gibt kein Jahr in der Geschichte der Menschheit, in der nicht gekämpft wurde.“
Simon nickte nachdenklich. „Aber ich verstehe noch immer nicht, warum Ihr …“
Der Magier gebot ihm zu schweigen. „Schau nur hin!“
Wieder verschwammen alle Bilder auf der dünnen Wand, die sie umgab, und schufen Platz für eine neue Illusion. Dieses Mal war es keine Ansammlung von Eindrücken. Vor Simons Augen entstand lebensgroß ein hoher Raum. Dicke graue Steine bildeten die Mauer. Ein riesiges Wappen prangte an einer der Wände, und Simon vermutete, dass sie sich im Mittelalter befanden und er gerade einen Blick in ein Burggemach warf. Und innerlich begann er zu zittern aus Angst vor dem, was er vielleicht zu sehen bekommen sollte.
In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch aus dickem Holz, auf dem sich allerlei Schüsseln und kleine Säckchen befanden.Ein älterer Mann mit Glatze und einem weißen Ziegenbart stand davor. Vorsichtig nahm er sich aus den verschiedenen Säckchen jeweils eine Prise eines Pulvers und mischte alles in einer Holzschüssel zusammen.
Ihm zur Seite konnte Simon den Schattengreifer erkennen, der völlig vertieft und konzentriert das Tun des alten Mannes verfolgte. Wieder war er in dieser Vision deutlich jünger als heute. Auf seiner Schulter saß die kleine Krähe. Sie beobachtete ebenfalls hoch interessiert die einzelnen Handgriffe des alten Mannes.
„Du siehst hier den Versuch, eine Arznei gegen eine mittelalterliche Form der Grippe zu finden“, ließ der Schattengreifer seine Stimme in Simons Kopf hören. „Der Arzt, den du dort siehst, stand nach jahrelanger Forschung endlich kurz davor, ein Mittel zu entdecken, das wirklich helfen konnte. Ich glaube bis heute, dass er gar nicht ahnte, wie nahe er der Lösung des Problems bereits war, als …“
Plötzlich kam Leben in die Szene. Eine dicke Eichentür wurde aufgerissen, und zwei Männer stürzten in den Raum. Sie kämpften mit Schwertern gegeneinander. Simon fiel sofort die Ähnlichkeit der beiden auf. Beinahe so, als kämpfe dort jemand gegen sein eigenes Spiegelbild.
Die beiden hieben in blinder Wut aufeinander ein. Doch nicht nur die Schwerter dienten ihnen als Waffen. Einer der Männer griff nach einem Stuhl und schleuderte ihn seinem Gegenüber entgegen. Der andere sprang auf den Tisch des Arztes, trat gegen eine der größeren Schüsseln und schmetterte seinem Gegner so die Ladung Pulver ins Gesicht.
„Nein!“ Entsetzt schrie der Arzt auf. „Meine Mischung! Meine Kräuter! Meine Medizin! Bitte, ihr hohen Herren … Bitte!“
Doch die beiden Kämpfenden hatten kein Ohr für die Hilfeschreie des alten Mannes. Sie hieben weiter mit ihren Schwertern aufeinander ein und verwüsteten dabei den gesamten Raum innerhalb von wenigen Augenblicken. Die Schüsseln und Säckchen fielen zu Boden, und ihr Inhalt ergoss sich über den steinernen Fußboden. Die Mischung des Alten wurde in hohem Bogen vom Tisch geschleudert. Eine Schüssel landete auf dem Boden, zerbrach, und die wertvolle Medizin verteilte sich auf den Steinen oder versickerte in den Fugen.
„Bitte – nicht!“
Simon bemerkte, wie der junge Schattengreifer in dem Raum die Hände zu Fäusten ballte. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer einzigen Fratze der Wut.
In diesem Moment vernahm Simon wieder die Stimme des heutigen Schattengreifers. „Ich konnte dies nicht mehr mit ansehen“, erklärte er. Und auch jetzt konnte Simon noch die rasende Wut aus der Stimme heraushören. „Immer wieder hatten Kriege und Streitigkeiten den Fortschritt der Wissenschaft gebremst. Immer wieder wurden geniale Erfindungen oder Entdeckungen zerstört oder für unwahr erklärt, weil sie den Machthungrigen nicht gefielen. Was du dort vor dir siehst, ist ein Streit zwischen Brüdern. Schon seit Jahren hatten sich diese beiden Königssöhne zerstritten, weil sie sich nicht einigen konnten, wer von ihnen den Vater als König ablösen sollte. Und an diesem Tag, dessen Geschehnisse du gerade mitverfolgst, wollten sie ihren Streit mit den Schwertern endgültig entscheiden. Mit den Schwertern! Verstehst du? Sie waren
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