Der Zeitenherrscher
die aufgehende Sonne den Anbruch eines neuen Tages an.
„Ich bin bereit, Schattengreifer. Bist du es auch?“
Simon wusste nicht, wohin er zuerst blicken sollte. Gleich mehrere Bilder taten sich vor ihm auf. Teilweise tauchten sie nebeneinander auf, zum Teil überlagerten sie sich. Die gesamte Wand vor ihm war schließlich mit Szenen aus dem Leben des Schattengreifers gefüllt.
Die Bilder ähnelten sich. Und dann waren sie doch wieder völlig unterschiedlich.
Im Mittelpunkt befand sich stets der Magier, meist noch in jungen Jahren, doch sichtbar älter als zu dem Zeitpunkt, in demer mit dem Jungen seines Stammes am Feuer gesessen hatte. In fast allen Bildern trug er bereits seinen schwarzen Umhang.
Um ihn herum erkannte Simon auf jedem Bild weitere Menschen. Mal befanden sie sich in einem Gebäude, mal in einem Wald oder vor einer Hütte. Stets waren diese Menschen im Gespräch mit dem Schattengreifer zu sehen, während sie mit etwas beschäftigt waren, das den jungen Magier sichtbar faszinierte.
Simon brauchte einen kurzen Augenblick um zu verstehen, dass sich der Magier jedes Mal in der Nähe von anderen Zauberern befand, die ihm ihre Geheimnisse offenbarten.
„Ich habe sie alle aufgesucht“, erklärte der Schattengreifer Simon, während er seine Klaue über die vielen bewegten Bilder an der Wand ziehen ließ. „Zauberer und Hexen, Magier und Alchimisten, Medizinmänner und Schamanen, Illusionisten und Hypnotiseure. Ich habe sie alle kennengelernt. Und sie haben mir ihre Künste gezeigt und mich ihre Fähigkeiten gelehrt. Alle. Nach und nach gelang es mir, diese verschiedenen Künste zu beherrschen. Ja, mehr noch: Ich konnte sie miteinander verbinden und so meine Macht um ein Vielfaches steigern.
Zunächst galt es natürlich, meinen Alterungsprozess aufzuhalten. Die ersten Jahre habe ich nur experimentiert, um die Zeit aufzuhalten. Dann verbesserte ich meine Kunst darin, die Zeit zu steuern. Ich reiste vor und reiste zurück. Ich lernte schnell, glaub mir. Schon bald konnte ich einzelne Epochen aufsuchen, wie andere Menschen Zimmer und Räume betreten. Ich studierte die Menschheitsgeschichte, ohne selbst ein Teil von ihr zu sein. Mit großem Interesse reiste ich durch Zeit und Raum, um zu studieren und mein Wissen und meine Fähigkeiten weiter zu verbessern. Ich war gespannt darauf, was dieMenschen erfinden, entwerfen und bauen würden. Ich wollte in Erfahrung bringen, was sie mit ihren gewonnen Erkenntnissen anfingen und wie sie Neues schufen.“
Er seufzte tief. „Doch leider wurde ich bitter enttäuscht. Meine vielen Reisen brachten mir nicht das, wonach ich suchte. Im Gegenteil. Ich wurde Dinge gewahr, schrecklicher, als ich es jemals hätte ahnen können. Sieh selbst …“
Die bisherigen Bilder auf der Wand verblassten und schafften Raum für neue Illusionen. Weitere Szenen aus dem Leben des Schattengreifers. Szenen, in denen er angewidert Kämpfe und Schlachten beobachtete, auf Feldern, in Städten oder auch auf dem Meer.
Auf einem der Bilder sah er den Magier hinter einem Mann herschleichen, der einem König auf seinem Thron gerade einen Kelch mit vergiftetem Wein brachte.
Simon spürte einen Stich in der Brust, als er das brennende Karthago sah, mit dem Byrsa-Hügel über der Stadt, auf dem Basrar gelebt hatte.
Eine Szene erkannte Simon sofort. Auf mehreren Zeichnungen war sie in seinen Lexika abgebildet: In einem Theater wurde ein Mann von hinten erschossen. Auf dem Bild darüber war allerdings eine ganz ähnliche Szene: Auch dort wurde ein Mann öffentlich von Kugeln getroffen, allerdings während er auf einem Balkon stand und zu unzähligen Menschen vor ihm sprach. Und daneben sah Simon das Bild eines abgemagerten Menschen, der verzweifelt in einer Zelle saß.
„Kennst du all diese Menschen?“, erkundigte sich der Schattengreifer. „Cäsar in seinem Senat, Abraham Lincoln, als ihn die tödlichen Kugeln trafen. Martin Luther King, der während einer Rede getötet wurde. Oder hier …“ Er wies mit seiner Klaueauf den hungernden Menschen. „Mahatma Gandhi, der sich in einem Hungerstreik für die Rechte seines Volkes einsetzte und der das Töten von Menschen durch die Menschen nicht mehr mit ansehen konnte. Alle diese Leute haben ihr Leben geben müssen bei dem Versuch, die Welt friedlicher zu machen. Und es gab noch mehr. Viel mehr.“
Simon wandte sich von all dem Grauen und der Gewalt ab. Er konnte diesen Anblick nicht mehr ertragen. Da spürte er die dünne Klaue des
Weitere Kostenlose Bücher