Der Zeitenherrscher
war es vielleicht nicht zu spät.
Christian konnte noch immer das tun, was er schon längst hätte tun sollen: Er würde die Verfolgung wieder aufnehmen.
Er würde den Schattengreifer jagen.
Simon stand zitternd vor Aufregung vor der hauchdünnen Leinwand und starrte auf die kleine Krähe, die sich auf der Schulter des früheren Schattengreifers reckte. Er war gerade Zeuge des ersten magischen Moments geworden, dem sich der Schattengreifer in seinem Leben bewusst war. Und er hatte hautnah erlebt, wie die kleine Krähe in die Welt dieses Magiers geraten war. Er erinnerte sich an das Gespräch, das er mit dem Vogel auf der Reling des Seelensammlers geführt hatte. Simon empfand echtes Mitleid mit ihr. Mit ihr und mit ihrem früheren Leben.
Er zeigte auf den Körper des Jungen, der noch immer ausgestreckt auf dem Sand lag. Der Junge, dessen Schatten sich über die Krähe gelegt hatte. Sie hatte ihm nicht gesagt, dass sie selbst einmal ein Mensch war.
„Was ist mit ihm, mit dem Jungen dort am Strand?“
„Ich habe ihn befreit“, erläuterte der Schattengreifer. „Ich habe ihm die Angst genommen. Seine Panik. Ich …“
„Ihr habt ihm sein Leben genommen“, widersprach Simon. „Ihr habt seine Persönlichkeit dem Körper einer Krähe übergeben. Ohne seine Zustimmung. Ohne …“
„Ich hatte nicht die Absicht, dass dies geschieht“, gab der Schattengreifer zurück, jedoch ohne jeden Anflug von Reue. „Zu jener Zeit hatte die Magie noch die Macht über mich. Es brauchte Jahrzehnte, bis ich die Gewalt über den Zauber innehatte.“ Auch er wies nun zu dem Jungen im Sand. „Dennoch: Ich habe ihm ein neues Leben geschenkt. Ein Leben an meiner Seite. Ein Leben ohne Furcht. Als Mensch hätte er sich von der Begegnung mit dem Säbelzahntiger niemals wieder erholt. Nächte voller Albträume und Tage voller Angst hätten ihm bevorgestanden. Doch mir hat er es zu verdanken, dass er …“
Ruckartig wandte sich Simon um und schaute dem Schattengreifer in die dunklen Augen. „Zu verdanken?“, rief er aus. „Er soll Euch … dankbar sein?“
Der Magier ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Du verstehst es nicht, oder? Ich habe ihn gerettet. Mit meinem Zauber.
Etwas unkontrolliert noch, aber es war doch eine Rettung.“
Simon hielt inne.
Eine Rettung?, fuhr es ihm durch den Sinn. „Eine Rettung wie bei den Jugendlichen auf dem Schiff?“, fragte er. „Habt Ihr die Zeitenkrieger ebenfalls gerettet? Ist das Eure Art, Mitgefühl zu zeigen? Indem Ihr Menschen rettet, gegen deren Willen?“
Der Schattengreifer blickte ihn bewundernd an. „Du denkst schnell, Simon. Doch du irrst. Bei den Zeitenkriegern war es etwas ganz anderes, was mich dazu bewogen hat, sie aus höchster Not zu mir zu rufen.“
„Gefühle?“, platzte es aus Simon heraus. Und im nächsten Moment hätte er sich ohrfeigen können, dass er das gesagt hatte. Der Schattengreifer sollte nicht erfahren, wie viel Simon von der kleinen Krähe bereits erfahren hatte.
Und tatsächlich beugte sich der Magier erstaunt zu Simon vor. „Du weißt davon?“
„Ich … Ist es wahr?“
Mit einem Schnaufen richtete sich der Schattengreifer wieder auf. Simon starrte gespannt an ihm hoch. Der Magier verzog keine Miene. Es war Simon unmöglich, in seinem Gesicht zu lesen.
„Du wirst deine Antworten erhalten“, gab der Schattengreifer zurück. „Lass dir zuvor noch etwas Entscheidendes zeigen.
Dann bist du bereit für die Wahrheit.“
Und während Simon noch an dem Schattengreifer hochblickte und sich fragte, wie nahe er an der Wahrheit vielleichtschon dran war, erkannte er aus den Augenwinkeln, dass sich die Farben auf der Wand um ihn herum bereits wieder zu verändern begannen.
Entschlossen verließ Christian das Zimmer seines Sohnes. Er hastete die Treppe hinunter, am Schlafzimmer vorbei, in dem seine Frau noch immer fest zu schlafen schien, und rannte zur Hintertür in den Garten hinaus. In dem Holzschuppen am Ende der Wiese griff er sich den Spaten und ging auf die alte Kastanie zu, die schon seit Jahrhunderten an diesem Platz stand, wie Christian wusste.
Er war fest entschlossen, den Kampf wieder aufzunehmen, die Suche nach dem Magier neu zu beginnen.
Er rammte den Spaten fest in die Erde unter dem Baum. Nun konnte ihn nichts mehr halten. Er würde zutage bringen, was er vor Jahrzehnten in der Erde unter diesem Baum versteckt hatte.
„Ich bin so weit“, sagte er, während er den Spaten erneut in die Erde rammte. Hinter ihm kündigte
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