Der Zeitenherrscher
Jugendlichen wieder unter das Fenster, gerade so, als befürchteten sie, die Seuche könnte sie am Fenster entdecken und zu ihnen nach draußen kommen.
Simon schüttelte es. „So etwas … habe ich … noch nie …“ Er sprang auf, rannte zur Hausecke zurück, stützte sich mit einer Hand noch ab, beugte sich vor und übergab sich.
Caspar kam und stellte sich an seine Seite. Er überlegte, was er Simon Ermutigendes sagen konnte, doch er zog es lieber vor, zu schweigen und seinem Freund einfach nur eine Hand auf den Rücken zu legen. Simon wusste die Geste zu schätzen. Er rappelte sich wieder auf.
„Danke, Caspar. Geht schon wieder!“
Die beiden schlichen zu ihren Freunden zurück.
„Entsetzlich, oder?“, fragte Nin-Si.
„Wie geht es denn jetzt weiter?“, hakte Neferti ein. „Wie sollen wir das jüdische Viertel finden? Mitten in der Nacht? OhneLicht? Und niemand ist auf der Straße. Wir können ja nicht bis morgen warten, um jemanden nach dem Weg zu fragen. In dieser Nacht wird der Schattengreifer Salomon mit sich nehmen. Wir müssen ihn heute noch finden.“
Simon nickte. „Was mich beschäftigt, ist diese Ruhe in der Stadt. Salomon hatte doch von der Hatz auf die Juden erzählt. Dass der Schattengreifer ihn in dem Moment aufgesucht hat, als Salomons Leben bedroht war. Aber in dieser Stadt wird niemand bedroht. Hier ist niemand, der …“
„Still!“, fuhr ihm Moon plötzlich dazwischen. „Ich höre etwas!“
Die anderen hielten den Atem an. Und tatsächlich: Schritte näherten sich.
„Vielleicht der Nachtwächter der Stadt?“, vermutete Caspar.
Moon überlegte noch, ob sie flüchten sollten, doch die Schritte klangen bereits so nahe, dass die fünf erst recht aufgefallen wären, wenn sie jetzt rennend ihren Platz verlassen hätten. Also gab Moon ihnen zu verstehen, dass sie sich langsam an der Wand entlangbewegen sollten.
Neferti stand an der Spitze der Gruppe. Immer mit dem Rücken zur Wand, setzte sie langsam einen Fuß neben den anderen. Die Freunde taten es ihr nach, den Blick ängstlich zu der Hausecke gerichtet, aus der die Schritte zu hören waren.
Sie kamen näher.
Neferti blieb stehen. Eine Flucht schien ausgeschlossen. Es galt nun, Ruhe zu bewahren. Simon wünschte sich, er hätte durch die Wand verschwinden können. Starr vor Angst blickten sie alle zu der Hausecke, an der in diesem Moment jemand hervortrat.
Im Dunkel der Nacht konnten sie nur Umrisse erkennen. Ein erwachsener Mensch stand dort, so viel war zu erkennen.Und er schien einen Umhang zu tragen, doch das war in der Dunkelheit nicht klar auszumachen.
Die Gestalt verharrte kurz an der Ecke, dann bog sie in die Gasse ein, in der die Freunde verzweifelt versuchten, sich zu verbergen.
Die Person kam weiter auf sie zu. Sie näherte sich dem Lichtkegel der Laterne im Fenster des Hauses, aus dem noch immer die eintönigen Stimmen der Menschen drangen, die für ihren verstorbenen Angehörigen beteten.
Als der Fremde sich ins Licht stellte, um ebenfalls einen Blick in das Fenster zu werfen, schrie Nin-Si auf. Mit diesem Krähengesicht auf dem hageren Körper und dem langen schwarzen Mantel hatte sie nicht gerechnet. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht in dieser Form – halb als Krähe, scheinbar noch in dem Zauber gefangen, mit dem der Schattengreifer den Weg hierher angetreten hatte.
Doch warum jetzt schon? Nach Salomons Bericht würde der Magier doch erst in einigen Stunden diese Stadt aufsuchen.
Durch Nin-Sis Schrei aufgeschreckt, drehte sich der Krähenkopf zu den Jugendlichen um. Für einen Moment dachte Neferti nun doch an Flucht. Aber dann hielt die ungewohnte Stimme des Fremden sie davon ab.
„Wer seid ihr?“, erkundigte sich die Person im Lichtschein. Und ihre Stimme klang völlig anders als die des Magiers. Weicher. Menschlicher. Lebendiger. „Wer, in Gottes Namen, seid ihr?“
Die Jugendlichen zögerten. Keiner von ihnen wusste, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich trat Simon aus der Gruppe hervor. „Wir sind fremd in dieser Stadt“, sagte er.
Die Person am Fenster kam auf Simon zu. Als sie aus dem Lichtschein der Laterne trat, war sie für einen Moment nicht zusehen. Dann stand sie vor den Jugendlichen, und allen wurde bewusst, dass sie einem ganz normalen Mann gegenüberstanden. Er trug über dem Gesicht eine Maske in der Form eines Krähenkopfes mit einem langen Schnabel und einer dunklen Brille darauf, sodass Simon die Augen des Mannes nicht erkennen
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