Der Zeitläufer
Wandees kritische Aufzucht. Man testete sie ununterbrochen, und die sechs intelligentesten wurden Mullah zur weiteren Ausbildung übergeben.
»Der Leviathan ist also kein Wal?« fragte der Lauscher.
»Nein, er ist ein Schiff«, erklärte ihm Clam. »Ich war drinnen und sah nichts von einem Organ oder Muskeln oder dergleichen, nur Räume und Maschinen. Und ich hörte und fühlte Dinge, die ich nicht begriff. Aber ich bin dessen sicher, daß dieses Schiff wußte, daß ich dort war. Es öffnete Türen für mich und folgte mir mit kleinen Augen in den Wänden.«
»Und es hat dir nichts zuleide getan.« Der Lauscher lächelte. »Herrlich. Der Leviathan ist ganz gewiß ein freundliches Schiff.«
»Es hat aber Peter getötet«, wandte Clam ein.
»Das war ein Unfall. Eine Oberflächenmaschine weiß vielleicht nicht, was unten in der See vorgeht. Ich denke, wir sollten versuchen, den Leviathan zu kapern. Vielleicht lernen wir, mit ihm zu sprechen.«
»Das Schiff könnte uns auch unter Umständen vor dem Schwarm schützen«, deutete Opal an.
Die Benthiks gaben diese Nachricht das Riff entlang weiter. Der Ozean würde also ihnen gehören.
ARNOLD war jetzt sechs Jahre alt, hatte aber schon die Größe eines Durchschnittsbürgers. Er hatte mächtige Muskeln, die er auch einzusetzen verstand. Bald würde er wichtige Arbeit zu tun bekommen – rostige Metallteile wegräumen. Er war sehr klug und verstand alles recht schnell. Sechsmal täglich fütterte man ihn mit seiner Spezialnahrung No. 15AA, denn er sollte schnell wachsen und sehr stark werden.
Bald wurde ARNOLD dem Mullah übergeben, unter dessen Leitung eine Versuchsreihe begann, die den Seelenzustand ARNOLDS klären sollte.
Man fing an mit Hunger, Durst, Schlaf, Jucken, Sex und ähnlichen Dingen. Jucken war deshalb wichtig, weil es zu einer aktiven Leistung führte: zum Kratzen.
ARNOLD litt also Hunger, Durst, Müdigkeit und Jucken, und die Tatsachen waren ihm ebenso bekannt wie die Möglichkeiten, sie auszuschalten.
Drum beobachtete ARNOLDS Erziehung ein wenig besorgt und kopfschüttelnd. »Armer ARNOLD«, sagte er. »Der Schwarm hat große Aufgaben für dich.«
»Er ist ausgezeichnet dafür gerüstet«, erklärte der Mullah.
»Er kann nie in Pension gehen«, fuhr Drum fort.
»Warum nicht?«
»Aus Sicherheitsgründen. Wir haben ihn so programmiert, daß sein Körper fünfzehn Aminosäuren nicht herstellt. Er muß also immer seine 15AA-Nahrung bekommen und darf nie etwas anderes essen. Fehlt auch nur eine dieser Aminosäuren, dann bricht seine Proteinsynthese zusammen, und er stirbt.«
»Solange er arbeitet, bekommt er doch zu essen«, wandte der Mullah ein. »Jeder tut doch für ihn, was er kann. ARNOLD wird es ganz bestimmt auch nicht schlechter haben als du.«
»Außer er wird überflüssig«, antwortete Drum.
Mit zehn Jahren waren ARNOLDS Muskeln von der schweren Arbeit in den Docks gehärtet. Da erklärte Drum, er dürfte vielleicht an seinem elften Geburtstag zur See gehen. Der Testosteronspiegel sei dann hoch genug, und seine Knochen ließen jetzt schon keine Wünsche offen.
*
Clam stapfte mißmutig über das südliche Riff. Dann schwamm er zur Ankerleine des Leviathans. Vor ihm wurde das Riff plötzlich lebendig. Mechanische Pumpen füllten die Lufttaschen und nadelten die Luft mit Sauerstoff.
Clam wartete eine Weile, bis die Pumpen wieder zu arbeiten aufhörten, und dann beobachtete er die Wasseroberfläche. Der walförmige Leib des Leviathans näherte sich langsam und zog Schleppnetze hinter sich her. Der Himmel schickte dicke Tropfen auf das Meer. Einen Moment später war Clam auf dem regennassen Deck. Sein Erscheinen löste einen Höllenlärm aus. Reihen von kleinen Nebisch-Leuten marschierten mit schulterhohen Netzen auf. Clam sprang auf das Kabinendach.
Donner rollte. ARNOLD trat aus dem Laubwerk und studierte den Benthik, der etwa hundert Meter von ihm entfernt war. Beide waren Riesen. Clam war dunkelhäutig und nackt, während ARNOLD normale Coveralls mit einem breiten, nägelbeschlagenen Gürtel trug.
»Hallo!« schrie Clam und winkte.
ARNOLD gab ein Handzeichen, worauf die Netzzäune niedergelegt wurden. Langsam stieg er darüber. Clam schaute sich nach weiteren Gegnern um. Nur die Decksmannschaft und ARNOLD schienen ihn bemerkt zu haben.
Clam konnte nicht glauben, was er sah und erlebte. ARNOLD war sechzig Meter über offenes Deck gerannt und hatte ihn angesprungen, gebissen, gekratzt, gestoßen und mit
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