Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zeitläufer

Der Zeitläufer

Titel: Der Zeitläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donald A. Wollheim
Vom Netzwerk:
ausarbeiten zu können. Jedes Ding hat seinen Platz in einer bestimmten Reihe, und dort bleibt es auch.
    Ich hatte meine Kur unten am Grund meines Koffers, und ich wußte, daß ihre Zeit gekommen war. Mein Grund, ausgerechnet dieses Band zusammenzustellen und mitzubringen, war, wie ich damals glaubte, sehr einfach gewesen. Es enthielt absolute Höhepunkte der besten Musik, die je zu kommerzieller Auswertung gemacht wurde. Dieses Band war wie ein Buch, das man immer und zu jeder Zeit wieder lesen kann, nachdem man schon jedes einzelne Wort auswendig kennt und liebt. Und da ich jetzt auch den wahren Grund kannte, hätte ich am liebsten laut gelacht, weil eine so merkwürdige Poesie dahintersteckte.
    Der Hoteldirektor kam und bat um etwas leisere Musik, weil wir seine anderen Gäste störten. Das hatte Turnhill ziemlich erschüttert, da im allgemeinen ein Neger spät nachts im Hotelzimmer eines Weißen nichts zu suchen hatte. Er wollte denn auch gehen, noch ehe ich mit meiner eigenen Verwirrung zurechtgekommen war.
    Ich drückte ihn wieder auf seinen Sitz zurück, schenkte ihm einen frischen Drink ein, redete immerzu und erzählte ihm, ich habe da ein Tonband, das ich kürzlich einmal in Kansas City am Radio aufgenommen habe, aber ich habe keine Ahnung, wer da spiele; vielleicht könne er mir einen Tip geben. Er schaute zweifelnd zur Tür und auf seine Uhr, während ich das Tonbandgerät nun auf den Schrank stellte und ein wenig leiser drehte.
    Vom ersten Takt an war er gefesselt. Er schien all seine motorischen Reflexe abgeschaltet zu haben und hörte nun aufmerksam zu. Ich hatte dieses Band vielleicht öfter gespielt als alle übrigen, und deshalb faszinierte es mich nicht mehr ganz so, wie ihn, doch für ihn war es eine Art Zauber.
    Laceys Anfangssolo, das einfachste und vielleicht wirkungsvollste, das er je gespielt hatte und das ich auch am meisten liebte, war ja auch ein Erlebnis: das zarteste, klarste und sauberste Filigran einzelner Noten, und dann im zehnten Takt ein dumpfer Beat. Das traf mich immer ganz tief in der Magengrube, egal wie oft ich es hörte – ihn auch. Und dann setzte der Tenor ein mit seinen perlenden Tönen, die federleicht über eine Tonleitertreppe nach unten hüpften, und der zweite dumpfe Beat traf einen unweigerlich in den Solarplexus.
    Ihm hing der Unterkiefer herab, und er sah vor äußerster Anspannung nahezu krank aus. Feine Schweißperlen standen ihm um Mund und Nase, und seine Füße standen eine ganze Weile still. Dann begannen sie sich langsam zu bewegen; leise, kaum daß sie sich vom Boden abhoben. Jetzt wäre es ihm um keinen Preis der Welt mehr möglich gewesen, unbeweglich zu bleiben. Das war jetzt der Moment der Erweckung, jener Augenblick, in dem der Schleier vor einem großen Geheimnis zurückgezogen wird. Es war eine Art Aura, die sein eigener Genius nun durch all den Plunder und Unrat scheinen ließ, der sich im Laufe der Jahre an ihm abgelagert hatte. Es war eine Läuterung, wie sie nur begnadeten Seelen widerfährt.
    Meine eigenen Gefühle sind hier noch ebenso gemischt wie in jenem Augenblick. Willie's Blues war das feinste Stück von Laceys Musik, das jemals aufgenommen worden war, aber ich wußte auch, daß es die letzte Aufnahme eines Todkranken war. Es war ja sehr schön, gewissermaßen eine Art Retter oder Erlöser zu sein, aber was wäre geschehen, wenn ich nicht gewesen wäre? Hätte er länger gelebt? Hätte er, bildlich gesprochen, dann immer nur schön brav an einem Swimming-pool gesessen und mit den Zehen gespielt, statt sich kopfüber in die brausende Flut einer Brandung zu stürzen? Er hätte vielleicht geheiratet und Kinder bekommen, sich später aus dem Musikgeschäft zurückgezogen und ein recht durchschnittliches Leben geführt wie andere Leute auch.
    Das sind aber alles nur müßige Überlegungen. Ebenso gut hätte er von einem Auto überfahren oder in einem Krieg umgebracht werden können. Nein, geschadet habe ich ihm nicht, als ich ihm dieses Band vorspielte, denn sein Leben bis zur Neige auskosten, aus dem vollen leben und seine Kerze dabei an beiden Enden anzünden – das geschieht nur mit begnadeten Menschen.
    Das Band war zu Ende, und er saß wie eine Statue da, ohne sich zu rühren, ohne einen Ton von sich zu geben; etwa so, als komme er langsam aus einer tiefen Trance wieder zu sich.
    Dann stand er auf und ging zur Tür; sie hätten einen anstrengenden Tag vor sich und müßten in aller Morgenfrühe wieder auf der Straße sein. Ich fuhr ihn

Weitere Kostenlose Bücher