Der Zeitläufer
hätte ihr Treibstoffvorrat fünfhundertmal größer sein müssen, oder ihre Reise hätte dreimal solange gedauert. Der Mensch hatte sein Bestes für Ilse getan, wenn man in Betracht zieht, wie kurz die ihm noch verbleibende Zeit war.
So begann also die Reise über hundert Jahrhunderte. Ilse trennte sich von den leeren Treibstofftanks und ließ sich allein treiben – ein gedrungener Zylinder von zwölf Metern Weite und fünf Metern Länge; aus einem Ende ragte ein großes Teleskop. Vier Lichtjahre unter ihr schimmerte im Dunkel der Raumnacht Alpha Centauri, ihr Ziel. Für das nackte menschliche Auge ist es ein einzelner heller Stern, aber mit ihrem Teleskop konnte Ilse klar zwei Sterne ausmachen, einer davon ein wenig schwächer und röter als der andere. Sorgfältig berechnete sie ihre eigene Position in Relation zu ihrem Ziel und schloß daraus, daß in den nächsten tausend Jahren eine Kurskorrektur überflüssig war, da ihr Kurs noch perfekter schlechterdings nicht sein konnte.
Noch viele Monate lang hielt die Erde den Kontakt mit Ilse aufrecht, um Probleme mit ihr zu klären und nach ihrem Wohlbefinden zu fragen. Das war ungeheuer pathetisch, denn wenn jetzt oder in den folgenden Jahrhunderten etwas schiefginge, könnte ihr die Erde kaum mehr helfen. Aber die Probleme waren interessant. Ilse wurde gebeten, die nichtluminösen Körper im Sonnensystem kartographisch festzuhalten. Sie wurde sehr geschickt darin und zeichnete alle neun Planeten, die meisten ihrer Monde und etliche Asteroiden und Kometen auf.
Es dauerte nicht ganz zwei Jahre, bis Ilse weiter von der Sonne entfernt war als jeder bekannte Planet, weiter auch als jede vorhergehende Erdensonde. Die Sonne selbst war nun nur noch ein sehr heller Stern hinter ihr, und Ilse hatte keine Schwierigkeiten, die für sie ideale Temperatur in ihren kühlen Innereien aufrechtzuerhalten. Es dauerte jetzt jedoch sechzehn Stunden, wenn sie eine Frage an die Erde richtete, bis sie die Antwort bekam.
Nun geschah etwas Merkwürdiges. Drei Wochen lang wurde die Sonne immer heller, bis sie zehnmal so hell strahlte wie vorher. Die Veränderung war nicht allzu groß und weit von dem entfernt, was die Astronomen der Erde eine Nova nennen würden. Ilse grübelte auf ihre Art monatelang über dieses Ereignis nach, denn um diese Zeit verlor sie auch den Maserkontakt zur Erde, der niemals wieder hergestellt werden konnte.
In Ilse vollzog sich nun auch eine Veränderung, denn sie mußte sich auf die leeren Jahrhunderte einstellen. So wie ihre Schöpfer es geplant hatten, spaltete sie ihren Geist in drei gleichartige Einheiten auf. Theoretisch konnte jeder dieser Teilgeister die gesamte Mission allein erfüllen, aber für wichtige Entscheidungen forderte Ilse die Übereinstimmung von mindestens zwei Teilgeistern. Nach dieser Aufspaltung war Ilse nicht mehr ganz so superintelligent und flink wie bei oder nach ihrem Abschuß, aber im interstellaren Raum geschieht sowieso wenig; die größte Gefahr ist hier ein Verfall durch Alterung. Ihre drei Geister verbrachten viel Zeit damit, daß sie einander überprüften und alle Untersysteme regelmäßigen Inspektionen unterwarfen.
Nur das programmierte Gedächtnis wurde nicht regelmäßig überprüft, da Ilses Schöpfer irrtümlich angenommen hatten, solche Überprüfungen können eine größere Gefahr darstellen als die normale Alterung.
Wenn auch ihre Aufnahmefähigkeit etwas eingeschränkt war, so verbrachte Ilse doch viel Zeit mit der Betrachtung des Universums, das sich um sie herum nach allen Richtungen unendlich weit ausdehnte. Sie entdeckte binäre Sternsysteme und sah zu, wie sich im Lauf der Dekaden und Jahrhunderte winzige Lichter umeinander schwangen. Für sie wurde das Universum zu einem lebenden, sich in ständiger Bewegung befindlichen Ding. Einige der näheren Sterne trieben pro Jahrhundert fast einen Himmelsgrad weiter, während sich die große Galaxis im Sternbild Andromeda weniger als eine Bogensekunde in einem Jahrtausend bewegte.
Gelegentlich schaute sie auch nach der Sonne zurück. Selbst nach zehn Jahrhunderten konnte sie noch Jupiter und Saturn erkennen. Das waren aber besonders glückliche Zufallsbeobachtungen.
Dann kam die Zeit für die mittlere Kurskorrektur. Die vorhergehenden Jahrhunderte hatte sie dazu benützt, ihre Ausrichtung und ihre navigatorischen Beobachtungen zu verfeinern. Die Brenndauer brauchte nur ganz kurz zu sein, so absolut genau war der Impuls von Perihelion gewesen. Ohne Kurskorrektur
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