Der Zeitläufer
seine Bewegungen konnte er nicht mehr richtig koordinieren. Was er hier zu finden gehofft hatte, war nicht das, was tatsächlich seiner wartete: ein Mann in einem schwarzen, hautengen Anzug mit einer Art Kontrollbox vor der Brust, ein irres, unglaubliches Porträt, das sich, während er zuschaute, in Nebel auflöste. Es war so, als versetze man einem Mann, der schon über einen Felsrand kippt, noch einen Fußtritt, der ihn dem sicheren Tod nur ein wenig schneller entgegenführt, nur einen Sekundenbruchteil schneller.
Während des eigentlichen Transfers löst sich alles zu Flecken und Körnchen auf, und sie tanzen, vervielfältigen sich und tun den Augen weh. Ich sah, wie er die Hand ausstreckte, weiß aber nicht, ob er nach mir greifen und mich festhalten oder mich wegstoßen wollte.
Er schrumpfte in sich zusammen, starb und löste sich in eine Million Flecken auf, während ich in die Leere des Transfers fiel.
Im wahrsten Sinn des Wortes starb er hier noch nicht. Er hatte noch genug Kraft, vor diesem Alptraum zu fliehen, bis er an einem dunklen Ort erneut stürzte und starb, diesmal für immer. Auch ohne meine Mithilfe wäre es geschehen, wenn nicht hier und jetzt, dann wenig später. Er war krank, ohne es vielleicht zu wissen, und er verschwendete sich an seine Musik, an das Leben. Für ihn war dies das einzig mögliche Ende.
Ich kann mir nicht vorstellen, was er dachte, als er rannte. Vielleicht starb er entsetzt und verwirrt, weil er sich einer Situation ausgeliefert sah, die er nicht mehr begreifen konnte. Armer Willie. Für ihn muß es ein grauenvoller Augenblick gewesen sein, als im Studio sich plötzlich die Zeit überlappte und er sich selbst als das Echo dessen erkannte, was er selbst in einer Vergangenheit oder Zukunft einmal gespielt hatte oder spielen würde. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, alles ineinanderfließend, einander überlagernd, die Zukunft vor die Vergangenheit setzend und die Vergangenheit in die Zukunft schiebend. Er erkannte sich selbst, wußte, daß dies unmöglich war, aber er mußte diese Musik vollenden. Töne, die aus der Vergangenheit kamen, entstanden in der Gegenwart und da, wo er sich befand.
Ich habe ihn getötet. Ich gebe es zu, ohne zu zögern. Vielleicht habe ich das gefunden, was ich, als ich diese Persönlichkeitstherapie begann, zu finden gehofft hatte. Vielleicht habe ich nun doch gelernt, das zu akzeptieren, was ich immer gewußt hatte: das Muster war gesetzt, meine Rolle darin festgelegt, und nichts hätte etwas daran ändern können.
Wie viele der großen Geister der Weltgeschichte, wie viele strahlende, unwiederholbare Künstlerschicksale wurden auf dieselbe Art manövriert, wie das Willies? Sie stolpern wie ungeschickte Kinder durch die Zeiten und ahnen nicht, welche Wirkung sie auf die Menschheit ausüben; daran darf ich nicht denken – jetzt nicht, später vermutlich auch niemals.
Ein langer Weg
Man nannte sie Ilse, und von allen Erdenkreaturen war sie diejenige, die am längsten leben sollte – und vielleicht die letzte. Eine kluge Schildkröte mag dreihundert Jahre leben, eine Trockenkernföhre sechstausend, aber Ilses programmierte Lebensspanne überschritt hundert Jahrhunderte. Wenn auch ihr Gehirn aus Stahl und Germanium bestand, das mit Arsen gedopt war, wenn auch ihr Herz nur eine winzige Wolke aus Hydrogenplasma war, so war Ilse doch – wenigstens zu Beginn – eine Kreatur der Erde. Sie konnte fühlen, Fragen stellen und vergessen.
Ilses früheste Erinnerung war ein Fragment und dauerte nur knapp fünfzehn Sekunden. Als sie auf ihrem S-5N-Kompressor saß, wurde sie versehentlich zum Bewußtsein erweckt. Es war Nacht, der Abschuß stand unmittelbar bevor und die Rampe ragte weiß und silbern in das grelle Scheinwerferlicht. Ilses scharfes Auge huschte den Horizont entlang, denn das Gleißen unter ihr machte ihr nichts aus. Im Norden lag eine Reihe von dreißig Abschußrampen. Einige davon hatten ihre eigenen Kompressoren, aber keine war so grell beleuchtet wie die Ilses. Dreitausend Meter weiter westlich war ein heller Lichtfleck, in dem gelegentlich ein automatischer Blitz leuchtete. Im Osten phosphoreszierte die Brandung vor der Küste von Merrit Island.
Das war das Ende des Bewußtseins, denn während des Abschusses war es nicht aktiviert. Diese Szene blieb jedoch unlöschbar in ihrem unbegreiflichen Gedächtnis haften.
Als Ilse wieder erwachte, befand sie sich in einem tiefliegenden Erd-Orbit. Ihr einziges Auge war in ein
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