Der zeitlose Winter
Ham wissen. »Eine Wiederholung und Umgestaltung von Geschichte?«
»In gewisser Weise schon. Aber die geschichtlichen Kreisläufe sind unveränderliche Muster, die aus tatsächlichen Ereignissen und existierenden Kulturen gebildet werden. Selbst die Galder- Umkehrungen sind wenig mehr als erzwungene Kombinationen bekannter Geschichten. Mythen bestehen aus einem Stoff, der unendlich oft veränderbar ist, absolut formbar und nicht von den Fesseln trivialer Wirklichkeit eingeschränkt: aus Phantasie. Darum können Mythen unendlich lange erhalten bleiben und jedes Mal, wenn ein Mythos neugebildet wird, werden die gewaltigen Ereignisse, die sich am Anfang der Zeit zugetragen haben, in gewisser Weise wiedergeboren.«
»Wiedergeboren«, sagte Bragi, als Ham mit dem Kopf hereinkam. »So kann man es wohl auch nennen.«
»Ursprünglich gehörte Bragi nicht zum Pantheon der Götter«, sagte Duk. »Er war ein Dichter des neunten Jahrhunderts, Bragi Boddason. Die Dichter späterer Jahrhunderte haben aus ihm einen Gott gemacht. Fortan war er der nordische Gott der Dichtkunst. Zieht man jedoch in Betracht, dass Dichtung vor tausend Jahren eine weit größere Bedeutung hatte, kann er wohl eher als der Gott gelten, der sich besonders um die Pflege der Künste kümmern sollte. Es gab noch einen anderen Dichter mit Namen Snorri Sturluson…«
»Snorri«, kicherte der Kopf. »Das war ein braver Junge.«
Duk lächelte dem Skalden zu. »Das ist mir zu Ohren gekommen. Snorri hat über ihn Folgendes gesagt: >Es gibt einen Asen mit Namen Bragi. Man rühmt ihn wegen seiner Weisheit und vor allem wegen seiner Redegewandtheit und Wortkunst. Er ist ein Meister der Dichtung, und diese wird deshalb auch ›Brag‹ genannt; ›Männer-Brag‹ oder ›Frauen-Brag‹ heißt jemand, wenn er wortgewandter ist als andere, sei es Frau oder Mann. Bragis Ehefrau ist Idun. In ihrem Eschenkästchen verwahrt sie die Äpfel, welche die Götter essen müssen, wenn sie altern. Dann werden sie alle wieder jung…<«
»Die Sibylle«, sagte Fischmehl, dem wieder einmal ein Licht aufging. »Du redest von der Sibylle Idun.«
»Ja«, sagte Duk, »der Hinweis auf die lebensverlängernden Äpfel verrät sie. Die ältesten Religionen kannten sie als die Große Mutter und stellten sie als nackte, ständig schwangere Fruchtbarkeitsgöttin dar. Diese Gottheit wurde in jeden nachfolgenden Pantheon aufgenommen: Für die frühen Sumerer wurde sie Innana und für die Babylonier Ischtar. In Kanaan war sie als Anat bekannt, als Isis in Ägypten und als Aphrodite in Griechenland. Und für die Völker des Nordens war sie Idun, die ihre Rolle als Fruchtbarkeitsgöttin im Bild der Äpfel bewahrt hatte und in anderen, kreativeren Mitteln zur Förderung des ewigen Lebens.«
»Sex«, sagte Hammurabi.
»Ganz recht«, sagte Duk.
Fischmehl lächelte – er hatte noch nie einen körperlosen Kopf erröten sehen.
»Wenn es darum ging jung zu bleiben, war es sicher von Vorteil, mit Idun verheiratet zu sein«, sagte Hammurabi.
»Merkwürdigerweise stellten die Dichter sich Bragi als alten Mann mit langem Bart vor«, sagte Duk. »Obwohl es nahe liegt, dass dies mit dem Glauben zusammenhing, Weisheit und Wissen könne nur jemand besitzen, der schon lange lebt und über viel Erfahrung verfügt. Was Bragi angeht, so muss man wissen, dass er viel mehr war als ein Gott der Dichtkunst. Bei Hofe wurde er nicht einfach nur als Geschichtenerzähler angesehen, sondern als eine Quelle großer Weisheit und Besonnenheit.«
»Eine Quelle von Weisheit und Besonnenheit?«, sagte Fischmehl boshaft. »Was ist ihm seither widerfahren?«
»Kinder«, sagte der Skalde. »Keinen Respekt mehr.«
»In den nordischen Kulturen«, fuhr Duk fort, »wurde Wissen zum großen Teil mündlich weitergegeben. So beruhten die kollektiven Erinnerungen und Geschichten der germanischen Völker auf Erzählungen, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden – und damit auf der Interpretation der Skalden. Die Geschichten über ihre Vorfahren und deren heldenhafte Taten und Verwicklungen in mythologische Ereignisse spielten nicht nur für das Individuum, sondern für den gesamten Clan eine entscheidende Rolle bei der ständigen Aufrechterhaltung eines Gefühls von kollektiver Identität und gemeinsamen Errungenschaften. Daher war es wichtig, dass diese Geschichten von weisen Erzählern verstanden und auf kluge Weise interpretiert wurden, statt nur blind wiederholt zu werden. Ein guter Skalde wurde deshalb vom
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