Der Zimmerspringbrunnen
Vorstellung: sie tun nur so, als schliefen sie. Dabei liegen alle, im Haus, in der ganzen Stadt, mit offenen Augen da. Ich öffne irgendeine Tür und sage: ›Na, du alter Verstellungskünstler, du kannst wohl auch nicht schlafen, wie?‹ Und aus dem Dunkel antwortet es laut und deutlich: ›Ja!‹«
Oder, unter dem Datum eines anderen Tages: »Heute vormittag, die große Runde mit Freitag. Kamen an dem Kindergarten (jetzt ›Kindertagesstätte‹, kurz ›KiTa‹) Ecke Krumlohstraße vorbei. Durchs offene Fenster Kindergesang: ›Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus …‹
Mußte sehr an mich halten, zerrte Freitag unbarmherzig an kurzer Leine weiter. Aufjaulen. Plötzliche, sehr starke Erregung.«
In der Nacht darauf heißt es: »Freiheitsstrafe oder Gefängnisstrafe – was ist schlimmer?« –
Wenn ich über den Erfolg von Atlantis nachdachte, fiel mir immer wieder die alte Dame ein, einer meiner ersten Kundenbesuche – in Dahlem.
Ihre Waldeinsamkeit hatte einen elektrischen Wackelkontakt. Ich konnte das an Ort und Stelle beheben. Sie war sehr dankbar, gab mir ein Trinkgeld. Auch ich war froh, mein letzter Termin an diesem Tag, danach ging es nach Hause.
Wo ich denn wohne, wollte die Frau wissen.
Ich sagte es.
»Ach, Sie sind von drüben? Das hätte ich nicht gedacht.«
Ihre Blicke gingen ungeniert an mir herunter.
Ich merkte, wie ich rot wurde.
Zu ihrer Beruhigung hätte ich jetzt am liebsten die Zähne gefletscht und die Augen gerollt, ließ es dann aber bleiben. Erst draußen, als ich vor der Villa stand, sah ich beschämt an mir herunter. Meine brombeerfarbene Hose – die Tarnkleidung, ich hätte sie ihr über den Zaun schleudern mögen!
Ich versuchte, die Sache zu vergessen. Aber später, als ich auf der Stadtautobahn im Stau stand, merkte ich, wie ich die ganze Zeit im Innenrückspiegel mein Gesicht nach Hinweisen abgesucht hatte.
Einmal in dieser Zeit rief ich bei Julia an. Es war ein Brief von ihrer Bank gekommen. »Falls unzustellbar, bitte an den Absender zurück!« war aufgedruckt. Ich wählte, durch diesen Aufdruck gewissermaßen legitimiert, die Nummer.
Am Apparat war Conny. Ich sagte: Ich habe eine wichtige Nachricht für Julia. Sie fragte, ob sie etwas ausrichten könne, ob ich es ihr nicht am Telefon sagen könne? Nein, sagte ich, es ist ein Brief. Conny lachte kurz auf. Sie fragte, von wem denn der Brief sei? Etwa von Julias »Stoffhasen«? Wieder Lachen, diesmal richtig frech.
Ich wollte etwas sagen, schwieg aber entrüstet.
Mein Schweigen mißverstand Conny nun als Einladung, mir endlich einmal ihre Meinung zu sagen. Ihre Meinung läßt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: 1. Ich könne überhaupt nicht begreifen, wie sehr Julia unter der Trennung leide. 2. Selbst jetzt, wo ich sie »aus der Wohnung getrieben« (?) hätte, mache Julia sich Sorgen um mich. Er (das heißt: ich), so sage Julia immer wieder, müsse endlich zu sich kommen, zu sich selbst finden.
Ich schwieg – und zwar angesichts dieser Neuigkeiten doch einigermaßen verblüfft. (Bisher, fand ich, waren meine Selbstfindungsaktivitäten ja nicht unbedingt auf solch einhellige Zustimmung gestoßen.)
»Was ist nun?« – Ich wollte dem Gespräch wieder eine dienstliche Note geben und auf den Brief überleiten. Außerdem war ich enttäuscht, nein: Ich war unendlich traurig darüber, daß diese Chance einer Kontaktaufnahme mit Julia vertan war. Ich weiß nicht, ob Conny etwas in der Art »zerknirschter Ehemann« von mir erwartet hatte – aber darauf hatte sie ja nun wirklich am allerwenigsten Anspruch! Sie quittierte jedenfalls den kühl-sachlichen Ton meiner Frage ihrerseits mit der Feststellung, ich hätte Julia nicht verdient. Ja, sagte ich – nein, dachte ich: Das habe ich nicht verdient! Conny erwiderte darauf etwas …
Da kam Freitag. Wahrscheinlich wollte er wissen, mit wem ich so lange telefonierte. Ich knurrte zwischen meinen Zähnen hindurch ein knappes »Ruhig!« – das kam kurz und militärisch, auf einer Silbe, wie ein »Husch!« Freitag parierte sofort, aufs Wort! und zog ab.
Inzwischen hatte Conny aber aufgelegt.
Ich überlegte, ob ich noch mal anrufen sollte, um wenigstens schöne Grüße an Julia ausrichten zu lassen. Das war mir aber zu wenig. Eine Frau verläßt ihren Mann (bleiben wir doch bei den Tatsachen) – und er? Er läßt ihr schöne Grüße bestellen. Da überlegte ich, daß ich vielleicht Julia übermitteln lassen sollte, ich wünschte, es
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