Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
einen Jungen aus einer Migrantenfamilie kennen, der durch Charme und gute Leistungen überzeugte, eine Unternehmerin, die nachhaltig und fair wirtschaften wollte, und viele andere, die ihre Energie mobilisierten, um die sie umgebenden Verhältnisse zu verändern. Das war die beste Antwort auf eine Regierungskoalition, die im Wesentlichen alles immer laufen ließ. Der Mietensketch war diesmal in Frankfurt angesiedelt, der gierige Vermieter benutzte plötzlich die Wendung »Hopp oder topp«. Besonders gut kam der gleich zu Beginn gesprochene Satz »Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden« an, obwohl solche Deklarationen bei mir persönlich eher Zweifel wecken, es könne genau umgekehrt sein.
Die sogenannte allgemeine Lage war trotz des Charmes der andauernden Länderreise nicht gut. Beim Einzug in die Halle hatte die Parteispitze sich gegen eine Aktion der »heute-show« wappnen müssen. Die Satiriker hatten einen Koffer mit Spielgeld dabei und wollten ihn Steinbrück so in die Hand drücken, dass es Banknoten regnet. Also zogen die Obergenossen eng eingehakt in die Halle und so, dass nirgends eine freie Hand baumelte. Wenigstens einmal sah man die so oft beschworene Geschlossenheit.
Unmittelbar vor dem Parteitag hatte es die x-te Panne gegeben. Der Slogan der ganzen Kampagne, »Das WIR entscheidet«, war schon vergeben, an eine Zeitarbeitsfirma. Aber weil das nur in einem pdf-Dokument veröffentlicht worden war, hatte es die Suchmaschine der SPD nicht gefunden. Die »tageszeitung« titelte »Zu blöd zum Googeln« und zeigte die SPD -Spitze in ganzer Pracht. Und das ganze Land lachte mit. Im Jahr ihres 150 . Geburtstags hatte sich die SPD mit viel Geschick und trotz des besten Willens aller Beteiligten in die Sphäre der Lächerlichkeit manövriert.
Dabei war das mit dem Slogan gar nicht das größte Problem. Das Problem waren die Lieblosigkeit und Beliebigkeit der Parole. Wenn man sie sich nur lang genug betrachtete, offenbarte sie ein schweres Problem und wirkte wie ein schwarzer Zauberspruch, ein »Sesam öffne Dich« zu den fundamentalen Misslichkeiten des Wahlkampfs und, mehr noch, der SPD . Die Aussage des Prädikats »entscheidet«, das dem Satz seine Kraft verleiht, wird durch das Subjekt neutralisiert. Die Wucht des Satzes wird also gleich zu Beginn gedämpft statt gerichtet. »Wir entscheiden« wäre dagegen ein deutlicher Satz, wenn auch sachlich falsch. Aber die Neutrumform des Artikels, der die erste Person Plural mit der Singularform des Prädikats verkuppelt, verunklart alles. Eine Sache kann nichts entscheiden, eine zur Sache erklärte Gruppe wird völlig abstrakt, und das nimmt dem Satz jede Brisanz. Es ist in diesem Satz also trotz seiner exekutiven Aussagekraft unklar, wer entscheidet. Gemeint war wohl: Das »Prinzip Wir« oder das »Wir-Gefühl« entscheidet, aber längeres Nachdenken über den Akteur solch eines Prinzips führt zu noch mehr Fragen: Gehören die Wähler der Union dann nicht zum Wir? Ist mit Wir ganz Europa, und auch die deutschen Interessen gegen korrupte Griechen, gemeint? Die Aussage würde deutlicher, hätte man den Satz umgedreht: »Entscheidend sind wir.« Entscheidungen sollen so getroffen werden, dass es dem Kollektiv nützt.
In gängiges Deutsch übersetzt, soll der Slogan sagen: Bitte treffen Sie Ihre Wahlentscheidung so, dass als Basis künftigen Regierungshandelns die Berücksichtigung der Interessen der Bevölkerungsmehrheit Vorrang hat. Jeder Sozialdemokrat kennt das Beispiel von Günter Grass für erfolgreiche Redigatur der Brandt’schen Ich-Schwäche. Der hatte in seinen Reden oft die verschraubte Formulierung verwendet: »Der, der hier steht, sagt«, und Grass hatte daraus gemacht: »Ich sage.« Wobei der Stolz des ehemaligen Waffen- SS -Mitglieds auf diese Verschmelzung mit einem neuen, moralisch unangreifbaren Subjekt wieder ein eigenes Thema wäre. Es stellt sich die Frage, ob die notorische Unklarheit des Subjekts bei den Sozialdemokraten nicht auf ein tiefes und strukturelles Problem schließen lässt. Eine Organisation, die das Prinzip kollektiver Aktion hochhält, deren Chefs und Mitglieder aus naheliegenden soziologischen Gründen immer Nobodys und Aufsteiger waren, keine Erben, ob solch eine Organisation nicht ein Problem damit haben muss, eine einzelne Person an der Spitze zu haben, die auch noch Genosse ist.
Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt traditionell in einer Heiligenverehrung: Brandt, Schmidt und Wehner werden zu
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